„Mind the Gab“ beim Nachkriegsschwur „Nie wieder Krieg“

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Als die Wiesbadener Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) der Spur zur Herkunft eines „Schwurs aller politischen Parteien nach dem zweitem Weltkrieg“ nachging, musste sie feststellen, dass der Satz „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“ in keinem Nachschlagewerk verzeichnet war. Er wurde in dieser Form also nie geäußert, niedergeschrieben oder anderweitig proklamiert.

Doch das zentrale Motiv, die Verpflichtung Deutschlands, in einem Krieg nie wieder der Angreifer zu sein und seine Waffen nur in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen einsetzen zu wollen, fand sowohl Erwähnung in Reden der Bundeskanzler Willy Brandt (z.B. März 1979) und Helmut Kohl (z.B. Oktober 1982), als auch im sogenannten „2+4-Vertrag“ (September 1990).

Alles nur mehr Schall und Rauch?

Ein im kollektiven Gedächtnis verschütteter Schwur, der nur noch in rudimentärer Form benutzt wird, wenn er sinnentstellend verkürzt als „Nie wieder“ oder „Nie wieder Faschismus“ von geschichtsvergessenen, aber gut zu instrumentalisierenden Personen zur demonstrativen öffentlichen Diffamierung politischer Gegner eingesetzt werden kann.

Als Alt-Achtundsechziger wird mir speiübel, wenn ich sehe, wie destruktiv, geradezu aggressiv man hierzulande und in Teilen Europas auf einen offensichtlich erfolgversprechenden Deeskalationsversuch der gewöhnlich nicht für derartiges bekannten US-Regierung reagiert, um die mittlerweile 3 Jahre andauernde kriegerische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine zu beenden.        

Die konträren Aktionen europäischer und somit auch deutscher Handlungseliten, mit denen sie fast schon hysterisch die Friedensbemühungen der Vereinigten Staaten torpedieren und sich für die Finanzierung und Fortsetzung des Krieges in der Ukraine auch ohne US-Unterstützung aussprechen, negiert nicht nur die Interessen von 450 Millionen EU-Bürgern, sondern missachtet auch die daraus resultierenden Konsequenzen und lässt -mal ebenso- das „Friedensprojekt Europa“ in Rauch aufgehen.

Fehlender Weitblick und die (sorry, etwas vulgär ausgedrückte) „scheiß drauf“-Mentalität wird beim Blick über den offensichtlich ideologisch verstellten Tellerrand erkennbar. Hier wird offenbar, dass die Kosten des ursprünglich von den USA befeuerten Krieges und der Wiederaufbau der Ukraine demnächst allein von der EU getragen werden müssen. Wie groß muss die kognitive Lücke in den Köpfen des politischen EU- Mainstreams sein, um nicht zu erkennen, dass man die ohnehin schon eingegangenen enorm hohen finanziellen Verpflichtungen mit einer „weiter so“ Kriegstreiberei ins uferlose verlängern würde.

Halten wir kurz inne, blenden, auch wenn es schwerfällt, den ständig von Politikern und Medien verbreiteten „Katastrophismus“ des „Wenn die Ukraine fällt, dann fällt auch Europa!“ aus, und betrachten die Lage in der wir uns befinden ganz nüchtern:

Die EU finanziert den Krieg eines Landes, das nicht Mitglied der Union ist. Die Mitgliedstaaten der NATO sind de facto Teilnehmer in einem Krieg, in dem kein NATO-Mitglied verteidigt werden muss“. (György Varga, ehemaliger ungarischer Botschafter in Moldau)

Da stellt sich doch die berechtigte Frage: Wie sind wir also in diese Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine hineingeraten? Haben wir uns bewusst dazu entschieden, und wenn ja, wie fundiert war unsere Entscheidung, Beteiligte an einem Regionalkonflikt zu sein? Oder taten das unsere Politiker für uns? Und da man in letzter Zeit so viel über Hass und Hetze spricht, drängt sich noch eine andere Frage auf: Wurden wir eventuell dazu aufgehetzt?

Fragen die eines gemeinsam haben: Sie basieren auf Lücken. Im hier behandelten Kontext der Folgenabschätzung von Krieg und Frieden für uns besonders gefährliche Lücken! Lücken in neuerer deutscher Geschichte, Lücken in der Informationsvermittlung, Lücken in sachgerechter Bewertung politischer Entscheidungen und Lücken in der Kenntnis über Beweggründe beteiligter Kontrahenten. Und einer besonders beklagenswerten Lücke: In unserer Gesellschaft fehlen echte Gelehrte vom Schlage des international hochgeschätzten US-amerikanischen Ökonom und früheren Professors an der Columbia-Universität, Jeffrey Sachs. Trotz steigender Akademisierung bringt unsere Gesellschaft kaum noch achtbare Spezialisten hervor. Gelehrte, die im Gegensatz zu manch politisch Verantwortlichen durch Suche nach Wahrheit und Erkenntnis ein aufrichtiges Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gesellschaft repräsentieren.

Nur derart respektable Persönlichkeiten könnten den zu Experten hochgejazzten Sprechpuppen und journalistischen Talkshowkriegern in den Arm fallen, und glaubhaft und öffentlichkeitswirksam deren „ich glaube“, „ich meine“, „ich fühle“ ein faktenbasiertes „ES IST“ entgegenhalten, und sie damit als Vertreter geistiger Leerstellen zu entlarven.

Fahrgäste der Londoner U-Bahn sehen sich schon länger mit Leerstellen konfrontiert, doch werden sie mit dem Hinweis „Mind the gap“ (dt.: Achten Sie auf die Lücke) ausdrücklich davor gewarnt. Dieser Sicherheitshinweis, mittlerweile als Schriftzug an den Bahnsteigkanten und teils mehrsprachigen Durchsagen auch in anderen U-Bahn-Stationen rund um die Welt präsent, soll die Zugpassagiere vor der Lücke zwischen dem Bahnsteig und den Türschwellen der Bahn warnen.

Eine Nichtbeachtung könnte zu bösen Verletzungen führen.

Auf die derzeitige politische Großwetterlage bezogen, sollte man Lücken womöglich mehr Beachtung schenken und sie gegebenenfalls sogar schließen. Idealerweise könnte man innehalten und sich vor dem Schritt darüber hinweg fragen, wieso es diese Lücken überhaupt gibt, und ob wir darauf vertrauen können, dass sie -im Gegensatz zur U-Bahn Lücke- für uns keine Gefahr darstellen. Bemühen wir dazu doch eine Redewendung: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!

Es wäre also angebracht, mal nachzuprüfen, ob Lücken uns eventuell dazu veranlassen, über bestimmte Dinge so und nicht anders zu denken? Entspricht das, worüber wir in den letzten Wochen, Monaten und Jahren -meist durch Mainstreammedien- zur Lage in Europa und der Welt informiert wurden, einer wirklich transparent und vorurteilsfrei vermittelten Nachrichtenlage, oder wurden wir selektiv und mittelsKatastrophismusin eine Denkrichtung gedrängt, die bei Kenntnis aller Fakten und Umstände eine ganz andere wäre?

Könnten wir mal darüber nachdenken, wer für unsere paranoide Störung verantwortlich ist, bei der der Betroffene glaubt, dass Russland sowohl kurz vor dem Zusammenbruch steht, als auch gleichzeitig die Welt erobern wird.  Diese Russophrenie, z. B. befeuert durch Aussagen unserer Noch-Außenministerin Annalena Baerbock, in denen sie entweder davon ausgeht, dass die von der EU ergriffenen Maßnahmen „Russland ruinieren werden“, andererseits aber warnt, „wenn die ukrainischen Truppen Russland nicht zurückhalten kann, dann kommt Polen und dann kommt Ostdeutschland, zum Beispiel Brandenburg“.

Betrachtet man aktuelle Umfragen, z. B. das „Politbarometer“ des ZDF mit Daten der „Forschungsgruppe Wahlen“, oder das „Trendbarometer“ von RTL und n-tv mit den Daten von „Forsa“ (Beide erhoben ihre Daten -nach dem Eklat im Weißen Haus- zwischen dem 4.-6. März 2025) erkennt man das Lückenhafte in der Bewertung der vorliegenden Umstände.

76 % im „Politbarometer“ und 71 % im „Trendbarometer“ befürworteten mehr Geld für die Bundeswehr, wobei sich 61 % der im „Trendbarometer“ befragten auch gleich für die Wiedereinführung der Wehrpflicht aussprachen. (Wussten die Befragten nicht, dass sich selbst der Bundesverteidigungsminister wegen fehlender Kasernen und Strukturen gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht aussprach)

48 % der Befragten im „Politbarometer“ gaben an, die europäischen Staaten sollten die Ukraine stärker militärisch unterstützen. (Nach dem warum und was man sich davon erwartet wurde nicht gefragt) Wobei in der gleichen Umfrage, der oben angeführte „Katastrophismus“ zeigte offensichtlich Wirkung, 72 % der Befragten angaben, sich „Sorgen über die Ausweitung des Krieges auf weitere europäische Lander“ zu machen. (Interessanterweise wurde bei der Frage nicht unterschieden, ob unsere aktuell in Rede stehenden Bestrebungen, oder „der Russe“ für die Ausweitung des Krieges verantwortlich wären)

Wobei sich 54 % der für das „Trendbarometer“ befragten sich „weniger große oder keine Sorgen“ machen, dass durch deutlich steigende Staatsverschuldung die kommenden Generationen überfordert werden könnten.   

Ein Ergebnis, seit einigen Jahren blieb es relativ stabil, fand ich besonders bemerkenswert:

Nur 17 % der Befragten des „Trendbarometer“ gaben an, Deutschland im Falle eines militärischen Angriffs mit der Waffe verteidigen zu wollen. 19 % würden es „wahrscheinlich“ tun. 60 % wären dazu „wahrscheinlich nicht“ oder „auf keinen Fall“ bereit. (Die Inkonsequenz der Befragten ist bemerkenswert. Womöglich sahen sie sich nicht als von der Wehrpflicht betroffen für deren Wiedereinführung sie ja waren)

Sind diese Antworten Ausdruck einer „kognitiven Dissonanz“, von der man immer so viel hört, oder eventuell der Glaube daran, „more of the same“ wird am Ende zufriedenstellende Ergebnisse erzielen? Oder nur der Nachweis dafür, dass man zu allem etwas meinen kann, selbst wenn man dazu keine ausreichenden Informationen hat.

Bemühen wir noch mal das Bild von der U-Bahn-Station. Haben wir übersehen was auf der Vorderseite des Triebwagens und den Fahrgastinformationen an den Außenseiten der einzelnen Wagons steht: „Zubringer zum Europäischen Krieg“. Selbst wenn, wie die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen, nur 17 % „wahrscheinlich“ einsteigen würden, und die Ukraine gegebenenfalls von uns auch ohne amerikanische Unterstützung noch stärker, womöglich durch unsere Soldaten militärisch unterstützt werden sollte, brauchen diese 17 % gar nicht erst einsteigen, da 100 % Zerstörung auch ohne ihren persönlichen Einsatz für unser Land erwartbar wären.  

Und obwohl aus dem EU-Haushalt eigentlich keine Waffen finanziert werden dürfen, beschließt die EU zur Freude von Polens Ministerpräsident Donald Tusk ein Rüstungsprogramm („ReArm Europe“). Tusk forderte ein „Wettrüsten“ mit Russland, das die EU „gewinnen“ müsse.  Das damit auch die Verschuldung von Mitgliedsstaaten provoziert wird, die bereits mit über 100 % ihrer Wirtschaftsleistung in der Kreide stehen, dürfte zwar die Stabilität der EU herausfordern.  

Doch „Putin hat immer wieder gezeigt, dass er ein feindseliger Nachbar ist“ befand EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 11.03.2025 in der Plenardebatte im Europäischen Parlament. Und deshalb, da ja auch die „dringende Notwendigkeit [besteht], die Lücken in der militärischen Versorgung der Ukraine zu schließen“, müssen jetzt „650 Mrd. EUR mobilisiert“ werden. Denn „wenn wir die Militärausgaben real betrachten“, so v. d. Leyen, „gibt der Kreml mehr aus als ganz Europa zusammen“.

Da v. d. Leyen in ihrer Rede keine Zahlen nannte, schließe ich die Lücke in ihrer Aussage anhand der vom „Londoner International Institute for Strategic Studies“ (IISS) im Februar 2025 vorgelegten Zahlen. Die europäischen Staaten verfügten 2024 über einen Wehretat von 457 Milliarden US-Dollar. Der russische Militärhaushalt wies im gleichen Jahr nur 145,9 Milliarden US-Dollar auf. Damit man jedoch behaupten kann, dass der Kreml für sein Militär mehr ausgibt „als ganz Europa zusammen“, bemisst man die russischen Zahlen nach Kaufkraftparität und kommt dadurch auf einen höheren Vergleichswert von 462 Milliarden US-Dollar.

Ein bemerkenswerter Taschenspielertrick! Sieht man Russlands volkswirtschaftliche Kennzahl (BIP) üblicherweise noch hinter dem BIP von Italien liegend, wertet man das russische Bruttoinlandsprodukt im Bedarfsfall plötzlich auf, indem man es nach Kaufkraft bemisst.

Derweil artikulieren in Deutschland die politischen Eliten im Gleichklang mit der Mainstreampresse Weltmachtpläne, indem sie halluzinieren, das Europa „darauf warte, dass Deutschland voran geht und die Führung übernimmt“.

Mit dem Einstieg in die von EU und Deutschland forcierte Militarisierung „unternimmt Berlin den Versuch, ein altes Ziel der bundesdeutschen Eliten zu realisieren: nämlich „auf Augenhöhe“ mit den Vereinigten Staaten zu gelangen“. (German-Foreign-Policy)

Spätestens hier sollte man sich als Deutscher ins Gedächtnis rufen, das die Länder der EU Deutschlands wirtschaftliche und finanzielle Potenz für die EU und deren Finanzhaushalt zwar als nutzbringend erachten, deutsches Gebaren im Allgemeinen und geschichtlich gesehen jedoch als zu dominant, schulmeisternd und mit einer unterschwelligen Animosität wahrgenommen wird.

Und so sollte es ungeachtet der in gewissen Kreisen wieder entflammten deutschen Großmannssucht auch niemand im politisch gerade mit sich selbst beschäftigten Deutschland überraschen, wenn sich der scheinbar auf Napoleons Spuren wähnende französische Staatspräsident Emmanuel Macron und Keir Starmer, Premierminister der immer prügelbereiten und über Jahrhunderte intrigenerprobten Briten schon mal als die neuen Herren Europas inszenieren.

Um eine „Koalition der Willigen“ zur Verteidigung der Ukraine zu bilden, stoßen sie unter dem Wohlwollen der EU verschiedene Gipfeltreffen an, um bestenfalls mit, aber auch ohne die plötzlich friedensbeseelten USA Truppen in die Ukraine entsenden zu können. Denn, wie meinte Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen am 5. März 2025: „Frieden in der Ukraine ist gefährlicher als der anhaltende Krieg“. Würde Trumps Friedensplan gelingen, könnte „Putin in Zukunft ja jemanden angreifen“.

Auch diese Einlassung der dänischen Ministerpräsidentin verdeutlicht die sich endlos fortsetzenden Kaskaden, an dessen Ausgangspunkt sich bereits eine der hier angesprochenen Lücken befindet. Bildlich gesprochen beklagten Medien und Politik von Anfang an ein zersplittertes Fenster. Über den Stein, der durch das Fenster geworfen wurde und so das Fensterglas zum Bersten brachte, sprachen sie jedoch nie. Wer warf ihn und warum? (Diese bildliche Umschreibung -sorry, aber der Artikel wäre sonst wirklich zu lang- sollte man als Aufforderung betrachten, die eigenen Lücken in der Betrachtung der amerikanisch/ukrainisch/russischen-Vorgänge ab 2014, mittels Lektüre seriöser Bedrohungsanalysen in deutschen und amerikanischen alternativer Medien aufzufüllen)  

Nicht jeder, aber einige dürften noch wissen, dass Russland, auch wenn es im Laufe der Geschichte verschiedene Namen trug, immer mal wieder von europäischen Ländern in große Kriege verwickelt wurde. Zuletzt zwei Mal von Deutschland. Doch nur wenige wissen, was der Militärhistoriker Prof. Dr. Rolf-Dieter Müller in seinem Buch „An der Seite der Wehrmacht. Hitlers ausländische Helfer beim Kreuzzug gegen den Bolschewismus“ akribisch aufschlüsselte.

Schon in der ersten Phase des deutsch-sowjetischen Krieges machten die Verbündeten und die Freiwilligen aus allen Teilen Europas zusammen rund eine Million Mann aus. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges war an der Ostfront schließlich jeder dritte Uniformträger auf deutscher Seite ein Ausländer“.

Über Bernd Schuhböck

Nicht nach heutigen, jedoch nach den Maßstäben der Ära Willy Brandt politisch eher linksliberal. Wer ihn missverstehen möchte, nennt ihn einen Sozialromantiker. Wer ihn kennt, wertkonservativ und mit zu viel Ethos für einen Bayer. Der Mann für´s kommunale, soziale oder sonstwie politische. Oder für Themen, für die sich keiner fand, der sie aufgreifen wollte.

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