Kommt das Zeitalter des „Post-Werte-Westens“

Lesedauer 9 Minuten

Ein geistreicher Dämpfer für „Wir weisen Weißen sind die prädestinierten Herrscher der Welt“!  

An der Schwelle zum „Post-Werte-Westen-Zeitalter“

Von Pentti Turpeinen*

Jahrhunderte konnte der zivilisierte Westen sich ausgiebig als Alleinunterhalter auf der Weltbühne austoben und das Weltgeschehen nach seinem selbstverfassten Theaterstück mit einem blutig-blumigen Bühnenbild gestalten. Dabei gelang es diesem fantasievollen Selbstdarsteller in seinem Schaffensrausch, die Vielfalt von humanistischen Ansätzen in den abendländischen Werten auf seine simple Welteroberungsideologie zu reduzieren. Das aufgeschlossene Heimpublikum, vor allem auf den teuren Sitzplätzen, war seit Anbeginn von der Werte festlegenden Gesinnung seines Idols angetan und lernte sich schnell als einen außerordentlichen Menschenschlag zu schätzen. Und wie gerufen fühlte man sich berufen, bei der Vollendung des „Werte-Westen-Zeitalters“ mitzuwirken.

Von der Professionalität der eigenen Darbietung begeistert, war man grade voller Zuversicht dabei, die Völker der Erde über die Alternativlosigkeit einer regelbestimmenden Weltordnung zu überzeugen. Aber irgendwas hat sich in dem globalen wirtschaftspolitischen Zusammenspiel geändert. Sogar im Westen gelegentlich hörbar, macht ein neuer Akteur auf der Weltbühne seit einigen Jahren immer lauter von sich reden und wirbt nun im Namen der Mehrheit der Erdenvölker für einen neuen Spielplan mit dem Stück „Post-Werte-Westen-Zeitalter“.

Damit meint der Darsteller des Globalen Südens keine sozialistisch-kommunistische Weltrevolution, sondern eine Verwandlung des liberal-imperialistischen business as usual und der dazugehörigen militärischen Oberaufsicht und Fürsorge des Westens in einen Win-win-Kapitalismus der souveränen Staaten.

Sich seiner Rolle als bewunderter Weltstar voll bewusst, lässt der abgeklärte Westen sich von dem Pöbel auf den billigen Plätzen des Welttheaters nicht aus dem Konzept bringen, bleibt cool und weiß mit all seiner Erfahrung vor allem das wertetreue Heimpublikum über die Hinterhältigkeit dieser multipolaren Verschwörungstheorie aufzuklären.

Ja, als eine wehrhafte und qualifizierte Minderheit unter den Erdenvölkern hat doch die abendländische Zivilisation in ihrer langen Geschichte glaubhaft bewiesen, nicht nur Herr der Lage, sondern der „Beloved Master of the World“ zu sein. Mit ihrem unwiderstehlichen Durchsetzungsvermögen heben sich auf der Weltbühne-West die US-Amerikaner für die anderen Mitspieler als ein begeisterndes Vorbild hervor. The American Way of Life lässt sich eben nicht beirren, kennt nur überzeugende Wahrheiten des eigenen Weltbildes. Und die westlichen Partner bemühen sich sehr, ihrem Titan nachzuahmen. In der aktuellen Krisenzeit wirken sie dabei sehr glaubhaft.

Was sollen also die statistischen Zahlen und Prognosen über die wachsende wirtschaftspolitische Macht des Globalen Südens, sei es als BRICS, Asean, Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, Boao Forum für Asia, G77+China, Belt and Road Initiative, EAWU, CICA, GUS, Afrikanische Union, Organisation für Islamische Zusammenarbeit, CELAC oder auch in der UNO usw.

Unsere bestens informierenden medialen Kreise gehen davon aus, dass es nur im Westen was Neues gibt, sind noch nicht darauf gekommen, dass seit Jahrzehnten in den fernen Schwellenländern intensive wirtschaftspolitische Zusammenarbeit praktiziert wird, und dies mit weitreichenden Folgen auch für unsere wertebestimmende Weltgestaltung.

Mit dem Inbegriff der westlichen Werte, mit dem Kapitalismus, war es dem Westen gelungen, den regelbasierten Unternehmergeist rund um den Globus in Gang zu setzen; nach eigenem Verständnis zum Wohle aller, versteht sich. Auch die gegenwärtige weltweite wirtschaftspolitische Entwicklung will der Westen weiterhin als Unterstützung für seine Agenda erkennen. Es sind ja nur China und Russland, die Ärger machen.

Da der Westen sein Heimpublikum mit dem Weltpublikum gleichzusetzen pflegt, fühlt er sich als unumstrittener „Global Player“ bestätigt. Dementsprechend interessiert er sich auf der Weltbühne-West nur für die eigenen Monologe. Dialoge mit anderen Kulturen waren in dem Theaterstück des Westens sowieso nie vorgeschrieben. Diplomatie entwickelte sich in eine Überzeugungskunst von einer vermeintlich allen nützlichen Akzeptanz der westlichen Interessen. Und diese „Depp-lomatie“ hat sich als eine hervorragende Methode bestätigt, um die internationalen Krisenherde heiß zu halten. Dabei ergibt sich vor allem für die USA immer wieder ein willkommener Anlass, sich als Retter in Not zu profilieren; wenigstens in den Augen der eigenen Anhänger.

Obwohl Rivalen, Konkurrenten und Erzfeinde, hatten sich die abendländischen Mächte im Laufe der Jahrhunderte bei ihrer gemeinsamen Welteroberung in einem einheitlichen Weltbild vereint: Wir weisen Weißen sind die prädestinierten Herrscher der Welt! Der kreative, zivilisierte Herrschergeist ließ daraus das Ideal eines dynamischen, Werte verbreitenden Welteroberers entstehen. Damit wurden sowohl die Weltbühne als auch ihr Hauptdarsteller als abendländisches Kulturgut erschaffen. Und die Kreativität der westlichen Kultur-Ideologie wurde erfolgreich auf das Verewigen des Westens als alleiniger Superstar des Weltgeschehens gelenkt. Seitdem heißt es, frei nach einem Gospel: „He’s got the whole world in his hands.“

Noch heute überwiegt der Stolz in der Rückschau auf die vergangenen Jahrhunderte der zivilisierten Weltbeherrschung. Ja, es wurden in allen Ecken der Erde zum eigenen Bedarf brauchbare Ressourcen entdeckt, viele erfolgreiche Kriege geführt und der eigene Reichtum auf Kosten der fremden Völker nachhaltig ergänzt. Wie es in einem Oldie heißt: „Those were the days, my friend, we thought they’d never end“.

Dass einige ehemalige Kolonialmächte sich grade jetzt einfühlsam für ihre Gräueltaten von damals entschuldigen – wohlgemerkt bittet man dabei gerne um Verzeihung für einzelne Untaten, aber nicht für die kolonialistische Hegemonie als solche –, wirkt angesichts der zunehmenden wirtschaftspolitischen Kraft des Globalen Südens nachvollziehbar. Man braucht Geschäftspartner.

Mit der Weisheit der weißen Herrenmenschen hat man zuerst mit physischer Gewalt Respekt für die abendländischen Kulturen erschaffen, um dann die unterentwickelten Armen mit leicht verständlicher Bildung in unsere Zivilisation einzugliedern. Man hatte ja früh erkannt, dass wir den Völkern der Welt allseitig hoch überlegen sind und von deren Kulturen nichts lernen können; na gut, ein paar alte Weisheiten fanden schon immer unter einigen Sonderlingen großes Interesse.

In der Tradition des europäischen Nation Building war es natürlich damals sinnvoll, auch die Wüsten- und Dschungelstämme in eigene Staatsgebilde zusammenzufügen. Mit ein paar graden Linien auf der Weltkarte war das im Nu erledigt. Diese neuen stolzen Nationen konnten dann mit den Werten und Idealen ihrer europäischen Herren und Wohltäter in die zivilisierten Weltreiche integriert werden. Die Aneignung der Sprache der jeweiligen Kolonialmächte hat diesen Prozess sehr beschleunigt. Auch die Kunst der kapitalistischen Geschäftstüchtigkeit und das Beleben der lokalen Binnenmärkte wurde in dem Bildungsauftrag der Abendländer sehr ernst genommen.

Um als Weltherrscher zu bestehen, war der Westen bestrebt, seine Werte und Ideale zum Weltstandard zu erheben. Mit dem Kapitalismus ist es ihm am besten gelungen. Bei den anderen Werten, wie z.B. der Menschenwürde, gibt es immer noch Uneinigkeit darüber, ob zweierlei Maß, wie vom Westen gerne praktiziert, eine internationale Akzeptanz finden sollte. Auf jedem Fall gilt es als eine humanistische Errungenschaft, wie der Westen nach all den brutalen Anfangsschwierigkeiten das Gebot „Unser Wille geschehe, damit es euch besser gehe“ in einen zivilisierten Kapitalismus verwandeln konnte.

Und jetzt, nachdem die Länder des Globalen Südens das kapitalistische Wirtschaften gelernt haben und ihre Volkswirtschaften in unterschiedlichste Institutionen vereinen, mit ihrer wirtschaftspolitischen Stärke ihr kulturelles Selbstbewusstsein entdecken und die eigenen Interessen durchzusetzen lernen, sich dabei sogar gegen westliche Korruption wehren und nicht mehr nur als Standort für billige Arbeitskräfte und als Rohstofflieferanten dem allgemeinen Wohlstand des Finanzkapitals dienen wollen, gerät das „Werte-Westen-Zeitalter“ ins Wanken.

Mangels Einsicht in die Bedingtheit des eigenen Erkennens und Handelns will der Westen den globalen wirtschaftspolitischen Verwandlungsprozess nicht wahrhaben. In der Tradition der abendländischen Selbsttäuschung erlebt die westliche Wertegemeinschaft sich als eine eigenständige, selbstgenügsame Macht und träumt weiterhin von einer werteorientierten Menschheit auf ihrer „Insel der Seligen“.

Dementsprechend sieht man in der medialen Öffentlichkeit wenig Bedarf, über die Verwandlungen der globalen Kräfteverhältnisse zu forschen, geschweige denn darüber öffentlich zu diskutieren. Vor allem gibt es kaum Untersuchungen, in denen ein herrschaftsfreier Diskurs über die globalen wirtschaftlichen und kulturellen Verwandlungen jenseits des westlichen Standpunktes angeregt würde. „Die Emanzipation des Südens“ von Jörg Goldberg, 2015 erschienen, ist eine erfrischende Ausnahme.

Es galt mal als ein demokratisches Ideal, dass die Bevölkerungen, um bei der Lösung der gesellschaftlichen Probleme sinnvoll mitwirken zu können, in der Lage sein müssen, sich über ihre Lebenswirklichkeit in aller Komplexität zu informieren. In der heutigen globalen Welt bedeutet dies, dass die mediale Öffentlichkeit samt ihren Forschern und Literaten und Künstlern selbstkritisch ihre einstudierte westliche Perspektive überwindet und uns auf die Suche nach einem zeitgemäßen globalen Erkennen und Handeln schickt.

Dass die Bevölkerungen sich umfassend informieren und direkt an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse beteiligen, ist als eine Schnapsidee aus der kreativen Geburtsstunde der Demokratie in Erinnerung geblieben, leider. Man hat gelernt, eine „Auseinandersetzungen verkneifende demokratische Praxis“ zu bevorzugen: Das Wahlvolk braucht doch die sozioökonomischen Zusammenhänge seiner Lebenswirklichkeit nicht zu kennen, und die Politik soll sich möglichst behutsam in zeitraubende Diskussionen mit den ahnungslosen Bürgern einlassen!

Das Versprechen der medialen Polit-Öffentlichkeit, dass wir uns nie mehr über die Spielregeln der eigenen gesamtgesellschaftlichen Dynamik streiten müssen, kommt gut an, klingt in manchen Ohren paradiesisch. Das Umwerten der Werte in eine Kreativität der weltweiten kulturellen Vielfalt bleibt tabu, die lokalpatriotische Einheitsmeinung das Ideal.

Mit dieser Geisteshaltung meinen wir immer noch, das Geschehen auf der Weltbühne meistern zu können. Da wir nicht auf die weltweiten wirtschaftspolitischen Verwandlungen und Kräfteverschiebungen vorbereitet sind, uns nicht als einen Aspekt des globalen Ganzen akzeptieren wollen, bleiben wir außer Stande, realistisch und besonnen auf die gegenwärtigen Kriege und Krisen zu reagieren und konstruktiv mitzuwirken.

Es ist dem abendländischen Westen gelungen, die Oberflächlichkeit der Einheitsmeinung zur Legitimation der eigenen Machtinteressen zu kultivieren. Und diese bewertende Einseitigkeit betrifft nicht nur das weltpolitische Geschehen, sondern in unserem Alltag auch das, was uns wie selbstverständlich als gewöhnungsbedürftig erscheint, seien es andere Ansichten, vor allem aber die Fremden und ihre Kulturen. Die kreativen Leistungen der außereuropäischen Völker und Hochkulturen lernen wir aus dem Standpunkt der eigenen Qualitätskriterien zu beurteilen. Was und wer diesen nicht entspricht, wirkt primitiv, geistlos, bestenfalls uninteressant.

Indem wir z.B. keinen Zugang zu den wunderbaren Musiktraditionen der fernen Völker der Erde finden, zeigt sich, wie fremd es uns geworden ist, die Musik als solche, als Ausdruck von natürlichen Emotionen noch vor den jeweiligen kulturellen Ausdrucksformen zu erleben und zu würdigen.

In den eigenen und fremden kulturellen Gebräuchen, Werten und Idealen eine allgemein menschliche Überlebensstrategie erkennen und dementsprechend miteinander bereichernd kooperieren lernen! Das wäre doch ein zeitgemäßes Motto für das „Post-Werte-Westen Zeitalter“. Na also!

*Dieser Text von Pentti Turpeinen erschien zuerst auf den „NachDenkSeiten“- Wir danken Pentti Turpeinen für das Recht der Zweitveröffentlichung. Pentti Turpeinen ist finnischer Staatsbürger. Er arbeitete als Journalist in Finnland, studierte dann in den 70er Jahren Philosophie, Politologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Später arbeitete er als hauptberuflicher Musikschullehrer und lebt heute in Oberbayern.

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