Vom gegenwärtig vordemokratischen Bewusstsein dem sich demokratische Herrscher als auch die demokratisch Beherrschten verpflichtet fühlen.
In ihrer Unfähigkeit, die kulturelle Bedingtheit des eigenen Denkens zu reflektieren, weltpolitische Ereignisse unvoreingenommen in einem umfassenden Zusammenhang zu erkennen, die Legitimation des politischen Handelns mit höheren Werten als längst überholt zu begreifen, verwandelt die westliche Wertegemeinschaft die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusammenhalts in eine aus den vergangenen Herrschaftssystemen vertraute Selbstmanipulation.
Eine philosophisch-ironische Analyse von Pentti Turpeinen*.
Dass das gemeinschaftliche Bewusstsein die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit aus den Augen verlieren kann, ist keine Ausnahme in unserer Zivilisationsgeschichte; nur gerne und konsequent verdrängt. Statt sich an die bedrückend lange Liste von selbst verursachten Katastrophen zu erinnern, bemüht man sich in Krisenzeiten wie heute besonders eifrig um die Zweifelsfreiheit für die eingeschlagene Einbahnstraße bzw. um die Veredelung der Kunst des Ablenkens von den systemimmanenten Fehlentwicklungen. Der Zweck heiligt die Mittel. Und auch die westliche Wertegemeinschaft ist von der Aufrichtigkeit ihrer Weltrettungsmission überzeugt. Dabei wirken tiefgründige Gesinnungshymnen Wunder, diesmal frei nach Marlene Dietrich: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Hass eingestellt, denn das ist meine Welt und sonst gar nichts.
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR als altbewährtes Feindbild erkannten die USA die Gefahr, ihr Image als alleiniger Retter der westlichen Freiheit zu verlieren. Also: Frische Feindbilder braucht der Freiheitsdrang! Und als in den darauffolgenden Jahrzehnten die zunehmende wirtschaftspolitische Macht von China, BRICS und den Ländern des globalen Südens den westlichen Kapital-Imperien und dem Dollar als Leitwährung eine beunruhigende Zukunft verdeutlichten, wusste man die „mit Fakten gescheckte Aufklärung“ unauffällig zu intensivieren. Ohne die ergebene Unterstützung der eigenen Bevölkerungen sind auch heute die Eroberungszüge für die Freiheit der Menschheit nicht zu bewältigen. Es wurden nicht nur vertraute Feindbilder mit bewährten Legitimationskünsten grunderneuert, sondern die zivilisierten Westmächte insgesamt in eine vielversprechende westliche Wertegemeinschaft vereint. Und die Stimmung ist gut, der Blick voller Tatendrang auf eine bessere Zukunft gerichtet: Freie Fahrt für freie Bürger in die ewige Freiheit und Glückseligkeit!
In guter christlich-abendländischer Kulturtradition pflegt der gesunde Menschenverstand der westlichen Wertegemeinschaft den festen Glauben, in dem zukünftigen „Reich der Seligen“ eines Tages Weltfrieden und Erdenwohlstand zu erlangen. Und die altbewährte Gewohnheit, selbstkritisch kritische Kritiker als Ketzer zu disziplinieren, bewährt sich auch gegenwärtig hervorragend. Traditionsbewusst haben die Vertreter der reinen Lehre der höheren westlichen Werte sogar in der medialen Öffentlichkeit die geistige Reife unserer Vorfahren erlangt: Gegen jegliche Selbst-Kritik immun bleiben! „Denn das ist meine Welt und sonst gar nichts“. Nicht nur die demokratischen Herrscher, sondern auch die demokratischen Beherrschten fühlen sich gegenwärtig voller Stolz einem vordemokratischen gemeinschaftlichen Bewusstsein verpflichtet!
Dass wir mit unserem angelernten sozialen Verhalten nicht nur die gesellschaftliche Dynamik stabilisieren, sondern auch strukturelle Voraussetzungen für Machtkonflikte, Kriege, Ausbeutung, Zerstörung der lokalen wie globalen natürlichen Lebensbedingungen usw. re-produzieren, haben die Herrschaftssysteme seit Anbeginn geistesgegenwärtig zu verschleiern gewusst. Die naturgegebene Überlebensfähigkeit, das eigene Denken und Handeln als ein kooperatives Mitgestalten einer gemeinschaftlichen Lebenswirklichkeit zu reflektieren, reduziert sich auf das willige Engagement für die Vorhaben der eigenen sozioökonomischen Weltordnung. Die systemstabilisierende Selbstmanipulation lenkt die Aufmerksamkeit der Manipulierer und Manipulierten auf das Wohlergehen des Bestehenden. Dabei hat man sich jahrhundertelang eingeredet, lokale Schäden an Mensch und Natur als unvermeidliche Kavaliersdelikte bei dem allgemeinen Fortschritt zu akzeptieren. Und dieser Tradition treu will unsere vorwärtsschauende Vernunft auch gegenwärtig nicht mal die Zerstörung der globalen Überlebensbedingungen als eine systemimmanente Fehlentwicklung wahrhaben.
So, wie wir gelernt haben, die Errungenschaften unserer zivilisierten Weltreiche und Nationen zu bewundern, lassen wir auch die EU und das Streben der westlichen Wertegemeinschaft auf eine unipolare Führerschaft nur im allerbesten Licht erscheinen; mit einem Blick in „die dunkle Seite der Gloria“ möchte man sich nicht verunsichern. Personen- und Kulturenkult sind wesentliche Bestandteile der Selbstmanipulation, eine traditionelle Selbstverständlichkeit unserer aufgeklärten Zivilisation. Ohne „Leichen im Keller“ können auch all die Herren Eroberer, Kaiser*innen, König*innen usw. ihre mit Lokalkolorit und emotionalen Geschichten ausgeschmückte ewige Ruhe genießen.
Beim heutigen Stand der noch jungen Selbstmanipulationsforschung deutet alles darauf, dass auch der Faschismus und das Phänomen der ver-Herr-lichten Diktatoren zwar lästige, aber systemimmanente Auswüchse unseres Zivilisationsprozesses sind. Das „selbstmanipulierende Alltagsbewusstsein“ fühlt sich traditionell mit dem Bestehenden befriedet, stellt kaum Fragen nach den Interessen, die das gemeinschaftliche Erkennen und Handeln leiten. Ja, eine Selbstmanipulation-Alarm-App könnte die Erfindung werden! Also wake up! Start up! We can change the world!
Bei unserer gegenwärtigen völkerumgreifenden Begeisterung für die regelbasierte Rettung der Weltordnung wäre der Ehrlichkeit halber eine selbstkritisch kritische Antwort auf die Frage fällig: Was ist unsere historische Leistung zum Wohle der Menschheit gewesen? Wie vom Donner der eigenen Geistesblitze betäubt, kommt nicht mal die mediale Elite mit ihrer professionellen Neugierde auf die Idee zu fragen: Was heißt eigentlich, „Wir sind die Guten, die aufrichtigen Weltretter vom Dienst?“ Na gut, mit Wittgenstein haben die wortgewandten Verklärer des Werte-Westens eine hochintellektuelle Erklärung parat: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Statt in der gegenwärtigen weltpolitischen Krise die Chance und Notwendigkeit für eine selbstkritisch kritische, also demokratische Bewusstseinserweiterung zu erkennen, zieht man reflexartig, im Stile unserer vordemokratischen Vorfahren, die Leine noch enger.
Der westlichen Wertegemeinschaft ist es mit erstaunlicher Leichtigkeit gelungen, die alltägliche Kommunikation auf vordemokratische Narrative zu reduzieren. Vor Kurzem noch konnte man bei privaten Unterhaltungen unbekümmert auch über die Weltpolitik anderer Meinung sein; und das mit Fremden, Bekannten, Kollegen, mit Freunden sogar. Man hörte einander bereichernd zu, suchte nach neuen Erkenntnissen, genoss die Gelegenheit, bei der Spontaneität des Redens seine Gedanken zu klären. Kulturen entwickeln sich im Schoße der Macht, behalten aber ihre kreative Eigenständigkeit. Und es sind nicht die Kulturen mit ihren geistesgegenwärtigen Kulturschaffenden und Wissenschaftlern, die Kriege gegeneinander führen, sondern Weltreiche, Staaten, Nationen, kurz: die Macht-Profit-Verwertungs- und -Entsorgungsanlagen.
Die Fähigkeit, von und mit anderen Weltkulturen zu lernen, weltweit kooperativ die menschliche Überlebensfähigkeit zu kultivieren, in der gemeinschaftlichen Kreativität die individuelle Freiheit zu verwirklichen, die Bedingtheit des eigenen Denkens und Handelns selbstkritisch zu reflektieren, bleibt unserer zivilisierten Intelligenz ein Mysterium. Dementsprechend erkennen wir heute noch beim Beobachten von fremden Kulturen nicht, dass wir in ihren Lebensweisen zugleich unsere eigenen Überlebensstrategien studieren und dass wir ihre Vorteile verwerten könnten. Ja, es ist uns fremd geworden, auch bei alltäglichen Begegnungen einander zu bereichern.
Im Eifer der von den Macht-Profit-Interessen geprägten Selbstmanipulation ist es den Manipulierern wie auch den Manipulierten entgangen, dass sie als würdige Vertreter des „Homo KI-sapiens sapiens“ zwar wunderbare technische Erfindungen realisieren, aber das menschliche Überleben als eine Anpassung an die Naturbedingungen seit Jahrhunderten aus den Augen verloren haben. Dass der Abschied von den kaiserlich-königlich-feudalistisch-nationalistisch geprägten Machtgebilden auch das Überwinden ihrer Legitimationsmethoden bedeutet und somit das Verwandeln der verinnerlichten Gesamtstrukturen der Herrschaft in einen demokratischen Diskurs einleitet, wurde von den Demokratien seit Anbeginn kaum in die Tat umgesetzt.
Dieser Tradition treu arbeitet die westliche Wertegemeinschaft weiterhin sehr kreativ an der Entwicklung zeitgemäßer Legitimationsmethoden. Dabei ist es ihr gelungen, die „Kunst der öffentlichen Sprachbeherrschung“ einfallsreich in eine Art moderne Kampfkunst unter dem Namen „Word-Fighting“ zu verwandeln. Einige mediale Großmeister von „Wordpower“ können sogar eine große Gruppe von Feinden der westlichen Wertegemeinschaft mit einem einzigen Wort auf der medialen Weltbühne erledigen. Wow! Die heutigen Wertezerstörer haben es nicht leicht, können zwar in der Art gut ausgebildete Kon-Fus-Fighter an das Überwinden der Selbstmanipulation appellieren, aber da die „Hüter des Wahren Wortes“ denen kaum Einlass in die „mit Wahrheit dem Volke dienen Publicity“ gestatten, können sie die hochentwickelte Selbstmanipulationskultur kaum gefährden.
Es gibt aber auch positive Ansätze: Systemfeindliche Denker mit der Kraft des Wortes aussperren statt körperlich einsperren! Auf diesen humanistischen Fortschritt kann der Werte-Westen besonders stolz sein; wenn man Assange und einige andere außer Acht lässt.
In einem wunderbaren Gedicht macht William Blake auf die Begrenztheit unserer Wahrnehmung aufmerksam: „To see a World in a Grain of Sand“. Ja, das Vorhandene als einen ausgedehnten Zusammenhang erkennen! Karl Marx hat das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem in seiner Art konkretisiert: In einer Ware das kapitalistische System sehen. Und es geht auch etwas alltäglicher: An einem Auto z.B. können wir erkennen, wie der Individualverkehr sich aus einer „wir fahren doch keine Pferdekutschen“-Eitelkeit der damaligen Reichen mit kreativem Elan und Business-Verstand in eine „Tot- und zum Krüppel fahren“-Normalität und zerstörerische Verschwendung von gemeinschaftlichen Ressourcen entwickelt. Na gut, berauscht von einem entzückenden Freiheitsgefühl, selbst entscheiden zu können, wie schnell man in seinem dicken Skoda auf der Autobahn fahren will, fällt das Beobachten „der Welt in einem Sandkorn“ natürlich nicht so leicht ein.
Die Unübersichtlichkeit unserer Lebenswirklichkeit bleibt eine selbstmanipulierte Realität und wird von der freien Marktwirtschaftsmacht als ihre grundlegende Dynamik einfühlsam gepflegt. Verständlich, dass die Vorstellungen von einem gemeinschaftlich geregelten gesellschaftlichen Ganzen und Ansätze der direkten Demokratie als Horrorvisionen des Kommunismus jedes normerfüllende Ego erschrecken.
Schon bevor die Erleuchtung über die allgemeine Unwissenheit größere Kreise beunruhigen konnte, hatte eine systemstabilisierende Kommunikationskultur „Tausend und ein Sprüchlein“ im Internet eine coole Beliebtheit gewonnen. Die „mediale Schwarmintelligenz“ von heute deutet Schlagzeilenlesen als Informationsaustausch, Meinungsäußerungen als Kommunikation und gelobt unterhaltsames Plaudern à la Talkshows als herrschaftsfreien Diskurs. Im Westen nichts Neues: „Denn das ist meine Welt und sonst gar nichts“.
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*Dieser Text von Pentti Turpeinen erschien zuerst auf den „NachDenkSeiten“ (12. März 2023) Wir danken Pentti Turpeinen für das Recht der Zweitveröffentlichung. Pentti Turpeinen ist finnischer Staatsbürger. Er arbeitete als Journalist in Finnland, studierte dann in den 70er Jahren Philosophie, Politologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Später arbeitete er als hauptberuflicher Musikschullehrer und lebt heute in Oberbayern.