Bild: Czeslaw Gorski Czessi (https://t.me/CzessiDotCom)

Werteorientierte Zivilisation im Bann ihrer Alternativlosigkeit

Lesedauer 7 Minuten

Bei aller Bewunderung und Respekt für die künstlerischen, wissenschaftlichen und soziopolitischen Errungenschaften der westlichen Kulturen wird eine andere Art ihrer Kreativität gerne übersehen: Seit gut 2.000 Jahren waren die abendländischen Herrschaftssysteme im ständigen Wandel und konnten dabei eindrucksvoll beweisen, dass Macht- und Profitinteressen unter unterschiedlichsten Herrschaftsmodellen zu verwirklichen sind. In ihren andauernden Kriegen und Raubzügen festigte sich stillschweigend eine gemeinsame, das zivilisierte Abendland verbindende und vereinende Ideologie des „sich Bereicherns und Welteroberns“. Neben den altvertrauten Selbstwertidealen entdecken nun die westlichen Nationen diese unausgesprochene Gleichgesinntheit als eine gemeinsame Identität und willkommene Stärke gegen den bedrohlichen Zuwachs der wirtschaftspolitischen Macht der ehemaligen Kolonien und sonstiger Rivalen.

Von Pentti Turpeinen*

Diese Selbstrettungsmission den eigenen Bevölkerungen als eine Weltrettungsmission zu vermitteln, lief unerwartet unkompliziert. Die Verteidigung der Meinungseinheit als Meinungsfreiheit hat sich dabei bestens bewährt. Und dass man die Moral der Geschichte auch bei diesem „regelbasierten Kreuzzug“ gegen die Expansion des Bösen aus dem Süden auf der eigenen Seite weiß, konnte in der breiten Politöffentlichkeit fast in Vergessenheit geratene Gefühle von Heroismus und Ehrenhaftigkeit der vergangenen Epochen wiederbeleben.

Bis vor Kurzem lernten die westlichen Bevölkerungen, die außerordentlichen Errungenschaften ihrer heimisch-lokalen Nationen zu verehren. Heute heißt es, in Lobgesänge auf unsere werteorientierte Zivilisation als ein harmonisches, friedliches und freiheitlich weltumarmendes Ganzes einzustimmen. Und die altbewährte Allgemeinbildung zur Förderung der Denkfaulheit, auch Informationspflicht genannt, prägt weiterhin zuverlässig das Wahrnehmen der eigenen Größe als eine unerschütterliche Alternativlosigkeit.

Ja, es wurde vieles erreicht, von gelegentlichen Krisen abgesehen. In freiheitlichen Demokratien können wir uns über unsere bürgerlichen Freiheiten freuen. Der Wohlstand wächst, und es stehen immer neue Konsumgüter auf den Regalen. Der Sozialstaat, das Gesundheitswesen, Wissenschaft und Technik sowie die Kunst der Kultur usw. haben unser Zusammenleben bewundernswert erleichtert, uns geistig angeregt – und das alles, obwohl bei diesem Fortschritt in erster Linie die profitablen systemstabilisierenden Erfindungen und machtlegitimierenden Visionen verwirklicht wurden. Kreativität und Neugierde sind uns Menschen eben eigen und befrieden uns auch unabhängig von der Art des Auftrags und den Intentionen des Auftraggebers. „Ich tue ja nur meinen Job“ heißt die gesellschaftliche Anleitung dazu.

Dass eine ausgesprochene Eroberungs- und Bereicherungstüchtigkeit sowie Überheblichkeit und Arroganz, Kriege, Elend und leichtfertige Zerstörung unserer natürlichen Lebensbedingungen den Fortschritt unserer Zivilisation charakterisieren, nein, mit solchen Geschichten wollten die aufrechten Abendländer doch nie einen Beichtvater belästigen. Unsere Zivilisation kennt kein schlechtes Gewissen wegen der Handlungen, die in ihrem Namen Leid und Not nah und fern verursachen. Der Unterschied zu gewöhnlichen „bösen Jungs“ ist, dass die bösen Taten der „Herrschenden im Dienst“ nicht geahndet werden, weil sie von der übergesetzlichen Alternativlosigkeit des Gesamtsystems gedeckt sind.

Wie sollte man z.B. auf eine wissenschaftliche Untersuchung reagieren, in der offengelegt wird, dass Großbritannien als Kolonialmacht allein in Indien und in nur 40 Jahren für über 100 Millionen Tote verantwortlich ist? Etwa mit Sprüchen wie „Es waren halt andere Zeiten“ oder „Shit happens“?

(Quellen: aljazeera.com und geopoliticaleconomy.com)

Mit den demokratischen Revolutionen hatte man vorbildlich begonnen, die menschenverachtende und wirtschaftlich unzeitgemäße Ausbeutung, Unterdrückung und Bevormundung der eigenen Bevölkerungen durch die vormaligen Monarchien zu überwinden. Dabei wurde auch, vor allem von sogenannten Anarchisten, eine Überlebensstrategie aus den archaischen Zeiten und ursprünglichen Kulturen als eine ausbaufähige Alternative wiederbelebt: das Synchronisieren der gemeinschaftlichen Lebensgestaltung in ein Gesamtsystem, welches als ein Ganzes unter der Kontrolle der Gemeinschaft bleibt.

Diese Souveränität des Volkes erfasst also nicht nur ein Mitspracherecht beim Korrigieren von einzelnen Missständen, sondern die Möglichkeit, die Schwachstellen am Gesamtsystem, die zu solchen Problemen führen, auf allemal gemeinschaftlich zu beseitigen. Wenn man z.B. erkennt, dass Kriege, soziale Ungerechtigkeit und Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen doch nicht im Allgemeininteresse sind, könnte man das Gesamtsystem diesbezüglich ändern.

Hermann Amborn hat von dieser Art der gemeinschaftlichen Überlebenskunst in seiner ethnologischen Untersuchung „Das Recht als Hort der Anarchie“ (2016) eindrucksvolle und anregende Beispiele aus den ostafrikanischen Kulturen gesammelt. Dass ein kooperativ reguliertes Überleben ohne Herrschaft und Profitgier auch in größeren Gemeinschaften möglich war, bleibt eine beflügelnde Nachricht.

Nach meinem „Zusammenhänge spürenden Bauchgefühl“ sind wir Menschen nach wie vor eine Lebensform unter anderen. Und dementsprechend fühlt sich die Tradition der archaischen Überlebensstrategie, diese unmittelbare Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit auf den Wandel der Lebensbedingungen vertraut und auch für komplexe Gesellschaften sinnvoll an.

Indem die Herrschaftssysteme in Krisenzeiten ihre systemimmanenten Schwachstellen und Fehlentwicklungen nicht reformieren können, verlieren sie die Fähigkeit, angemessen auf den natürlichen Wandel zu reagieren, und beschleunigen somit ihren Untergang; dies gilt auch für die gegenwärtige werteorientierte Zivilisation.

Die Geschichte des Abendlandes ist voll von Aufständen, Unruhen, Umwälzungen, Revolutionen. In der Regel entwickelten sich daraus Machtkämpfe zwischen den Mächtigen. Auch bei den demokratischen Umwälzungen verselbstständigten sich die demokratischen Nationen als eine Fortführung eines altvertrauten Leitbildes: Reiche werden immer reicher.

Dass Reiche immer reicher werden, gilt als eine Selbstverständlichkeit; was es in der zivilisierten Lebensgestaltung auch ist. Aber dies ist nicht nur eine statistische Randnachricht, die alljährlich verbreitet und mit Gelassenheit von der aufgeklärten medialen Politöffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Dass Reiche immer reicher werden können, beruht auf einem wirtschaftspolitischen Gesamtsystem, das unsere abendländische Geschichte seit ihrem Anbeginn prägt.

Da die Monarchen und Fürsten und edle Großgrundbesitzer und Großunternehmer usw. in das demokratische Vorhaben integriert wurden, verselbstständigten sich die Potenziale des demokratischen Nationalismus in eine Weiterentwicklung der altvertrauten kaiserlich-königlichen Tradition des Eroberns und sich Bereicherns in einer neuen Gestalt.

Dank der permanenten Kriege untereinander und in ihren Kolonien erlangten die abendländisch aufgeklärten Nationen eine bis dato unvorstellbare Macht und Stabilität sowie Know-how für eine weiterführende hochkultivierte Welteroberung und Kapitalvermehrung.

Die demokratische Nation hat sich als ein ideales Modell erwiesen, um die altvertrauten Macht-Profit-Interessen und den Kampfgeist der Arbeiterbewegung für das menschenwürdige Überleben der Bevölkerung ohne Gewalt, eben zivilisiert, demokratisch, kooperativ zu regeln. Und darüber hinaus erwies sich die Nation als ein hervorragendes Machtgebilde bei der Stabilisierung der zivilisierten Herrschaft über die Kolonien. Die weltweite Staatenbildung (nation building) war auf dem Papier leicht zu verwirklichen. Mit ein paar Strichen auf der Landkarte konnten die Kolonialmächte ihre eigenen Nationen mit „ergebensten“ Untertanen erschaffen.

Aber die Zeiten ändern sich. Die Nationen des Globalen Südens nehmen ihre Souveränität ernst. Der Westen ist aber keinesfalls bereit, seinen Glauben an die eigene Alternativlosigkeit zu reformieren und sich auf ein respektvolles Zusammenleben einzustellen. Ja, diese Geisteshaltung kennt man doch: „The winner takes it all“. Das hat auch die schwedische Popgruppe ABBA mal erkannt.

Wir verteidigen also die westliche Demokratie, westliche Werte, Freiheit und Wohlstand und Frieden, die regelbasierte Ordnung, die Zivilisation des Abendlandes, die Würde der Menschheit, unsere christliche Religion usw. Und wer aus seinem „nach Zusammenhängen suchenden Bauchgefühl“ die Frage stellt: Was sollen all diese In-, Auf-, Vor- und Überschriften eigentlich bedeuten, erlebt sein dunkelblaues Wunder.

An einem herrschaftsfreien Diskurs fanden die herrschaftlichen Herrscher schon immer her(r)zlich wenig zu verherrlichen. Dafür hat sich eine Diskussions- und Informationskultur entwickelt, die an einen inhaltslosen Gedanken-Pingpong erinnert. Die Bundespressekonferenz, wie von Florian Warweg dokumentiert, ist ein Musterbeispiel für dieses zutiefst verunsicherte Streben, die Alternativlosigkeit der eigenen Aussagen mit einer bürokratischen Gewissenhaftigkeit zu verteidigen.

Die werteorientierte Zivilisation führt nicht nur ihren Kreuzzug gegen das Böse auf der Welt, sondern ist auch in einen innenpolitischen Konflikt über den wahren Nationalismus geraten: „lokaler vs. globaler Nationalismus“. In dieser innernationalistischen Auseinandersetzung träumen die einen von Ruhe und Ordnung in einer ethnisch reinen, souveränen Nation und die anderen vom weltweiten Glück und Frieden unter der Führung des werteorientierten Westens.

Mein „Zusammenhänge erfassendes Bauchgefühl“ will nicht nur das aggressive Verteidigen der Alternativlosigkeit des Gesamtsystems als einen wesentlichen Grund für die abendländischen Fehlentwicklungen beklagen. Um die archaische Vorstellung von einer gemeinschaftlich koordinierbaren Wandlungsfähigkeit eines Gesamtsystems in eine echte Alternative zu entwickeln, bräuchten wir aber gut durchdachte, konkrete Modelle.

Also, liebe sozial- und wirtschaftspolitisch kreativen Geister, Politiker, Scientific Community, dazu nur zur Anregung: Wäre da was zu machen?

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*Dieser Text von Pentti Turpeinen erschien zuerst auf den „NachDenkSeiten“- Wir danken Pentti Turpeinen für das Recht der Zweitveröffentlichung. Pentti Turpeinen ist finnischer Staatsbürger. Er arbeitete als Journalist in Finnland, studierte dann in den 70er Jahren Philosophie, Politologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Später arbeitete er als hauptberuflicher Musikschullehrer und lebt heute in Oberbayern.

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