EU-„Cyberkommissar“ Oettinger: Netzneutralität tötet, Befürworter sind Taliban-artig
Endlich Zeit, endlich Zeit für eine Tasse Kaffee. Maschine an, Wasser rein und …. nichts! Das Wasser kommt nur tröpfchenweise aus der Leitung. Ein Blick aus dem Fenster gibt Aufschluss: Nachbar Krause lässt gerade seinen Pool volllaufen. Und da Nachbar Krause einen kostenpflichtigen Premium-Liefervertrag mit dem örtlichen Wasserversorger abschloss, bekommt er die komplette Menge des aktuell durch die Leitung fließenden Wassers vorrangig und ungedrosselt. Solange Krauses Pool nicht gefüllt ist, kommt Wasser aus den Leitungen seiner durch Standartwasservertrag benachteiligten Nachbarn eben nur tröpfchenweise.
Alles Quatsch!?
Beim Wasser ja, doch bei den Daten im Internet könnte es für viele bald nur noch tröpfeln!
Der „Cyberkommissar der Herzen“ (NETZPOLITIK.ORG), EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger, nach Meinung vieler netzpolitisch Interessierter ein Paradebeispiel dafür, warum es Politikerverdrossenheit gibt, gab Anfang März erneut einen tiefen Einblick in sein Mindset.
Es spricht der Cyberkommissar
Auf Einladung des Bundesfinanzministeriums diskutierte er mit dem Vorstandsvorsitzenden der Deutsche Telekom AG, Timotheus Höttges, unter anderem über Netzneutralität, also dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Bandbreite und Geschwindigkeit bei der Datenübertragung im Internet. (Hier das Video und das Transkript dazu)
Hatte die „mit dem Internet betreten wir Neuland“ Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im Dezember 2014 auf einer Veranstaltung des Vodafone Instituts für Gesellschaft und Kommunikation ganz allgemein davon gesprochen, „die Chancen der Digitalisierung [zu] nutzen„, sprach sie sich im Verlaufe des Vortrags „wegen neuer Spezialdienste“ gegen Netzneutralität aus. Fahrerlose Autos oder die Telemedizin benötigten eine vorrangige, sichere Verbindungsqualität. (Das sie sich dabei -wie später auch Öetinger- technisch vergaloppierte, wird man weiter unten noch lesen)
Während die Debatte in der EU und Deutschland noch läuft, verabschiedeten unsere EU-Nachbarländer Niederlande und Slowenien, und aktuell auch die USA Gesetze zum Schutz der Netzneutralität.
Und dann kam Oetinger.
Im für ihn typischen „Oetingersprech“, ausnahmsweise nicht in „schwäblish“, geißelte er das deutsche Bestreben nach Netzneutralität als „talibanähnliche Entwicklung„, rückte die Netzgemeinde in die Ecke „da sind die Piraten unterwegs“ und erging sich -wie vorher schon Merkel- in technisch haltlosem Wirrwarr. (Neben der Offenbarung seiner nicht vorhandenen Internet- Kompetenz bediente sich EU-Staatsdiener Oetinger diesmal auch einer Geringschätzung ausdrückenden Beschreibung für die Bezeichnung Jugendlicher)
Na Bravo, Oetinger sieht Internet wo keines ist!
Oetinger rechnet dabei selbstfahrende, also mittels Laserscanner, Radar- und Stereokamerasystemen „autonom“ fahrende Autos zu den –im Rest der Welt völlig unbekannten– durch Internet ferngesteuerten Fahrzeugen.
Deshalb sieht er auch die „Verkehrssicherheit – ein kommerzieller Dienst“ in Gefahr, weil „hinten rechts [im Auto] hockt die 6-jährige Tochter und lädt sich Musik runter, Youtube, hinten links hockt der 9-jährige Bengel und macht irgendwelche Games„.
Da Oetinger fälschlicherweise glaubt, die Sicherheit von Fahrzeug und Insassen wäre von Daten aus dem Internet abhängig, wäre für Oetinger Netzneutralität hier der falsche Weg.
„Ist es wichtiger, dass die beiden in Echtzeit [aus dem Internet Daten empfangen], oder (der Alte) im Auto vorne links in Echtzeit hört, von rechts kommt jemand. Ich finde, Youtube herunterladen hat ein paar Sekunden Zeit, ich finde, das Game kann auch mal irgendwo nicht perfekt auf dem Bildschirm sein„.
Und damit es ja auch wirklich alle verstehen (besonders die, für die Netzneutralität unter deren Wahrnehmungslevel liegt), treibt Oetinger den billigen Populismus auf die Spitze:
„Wenn Sie Verkehrssicherheit in Echtzeit haben wollen, da geht´s um unser Leben! Dann muss dies absoluten Vorrang haben, in Qualität und Kapazität„.
Wir werden alle störben (ausgeliehen von „fefe“)
Um Leben ging´s ihm auch beim „Portalkrankenhaus im ländlichen Raum, das bei einem schweren Unfall vielleicht auch Operationssaal sein soll, und das Uniklinikum mit dem Oberarzt macht dies, wenn diese digitale und elektronische Operation möglich sein soll, dann geht dies nur in perfekter Qualität und Kapazität der Übertragung der Anweisung, die der Oberarzt im Organbereich – Lunge, oder Herz, oder Kreislaufgefäße – beim Patienten gibt“.
Aha, meinte ein an Netzpolitik interessierter in einem Kommentar auf „Netztpolitik.org“ dazu: „Hirnchirurgie läuft also über dieselbe Leitung auf der der neunjährige Bengel Angry Birds zockt“. Und berichtete davon, man muss es nicht wirklich betonen, das Öettinger auch hier an der heutigen Technik vorbei argumentiert, da die Medizintechnik Menschenleben nicht von der Netzverfügbarkeit abhängig machen würde. (Ein Oberarzt wäre bei derlei Leichtsinn nicht nur seinen Job los)
Für derartige Fälle gibt es zum Beispiel den Dienst CompanyConnect der Telekom mit Standleitung ins Internet und garantierten Bandbreiten von 256 kBit/s bis zu 622 MBit/s (Auch mit flexiblen Kupfer- oder Glasfaser-Anschlussvarianten)
Bei der so gerne zitierten „Telemedizin“ geht es nicht um Operationen,
sondern um den Austausch und das Abrufen elektronischer Fallakten, somit Doppelarbeiten zu vermeiden oder auch um Übertragung von Vitalparametern eines Patienten.
- Telemedizin nützt Ärzten untereinander zur Übermittlung von Patientendaten, zum Einholen von Zweitmeinungen und zum Wissensaustausch („doc2doc“-Telemedizin). Sie wird in der medizinischen Weiterbildung, bei besonders komplizierten Fällen oder in entlegenen Gebieten eingesetzt.
- Telemedizin wird aber auch in der direkten Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Patienten angewandt („doc2patient“-Telemedizin). Dabei werden vor allem Gesundheitswerte überwacht, aber auch bei Bedarf Diagnosen gestellt und Therapien eingeleitet. (Auszug aus der Beschreibung zur Telemedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin)
Jetzt hat erneut das EU-Parlament die Finger am Hahn
Netzneutralität ist für viele Deutsche und Internationale Telekommunikationsunternehmen kein besonders erstrebenswertes Ziel. Der Netzausbau ist kostspielig und die Bürokratie (wer ist wofür zuständig) ist eher zögerlich. Das Geld für den Ausbau spart man sich lieber und will stattdessen kräftig an den Premiumanschlüssen verdienen. (Das mit der „Drosselkom*“ war dafür ein erster, bisher noch gescheiterter Versuch)
Doch die Chance, Netzneutralität gesetzlich festzuschreiben wurden nicht nur wegen „Cyberkommissar“ Oetinger schlechter. Obwohl das EU-Parlament „JA“ zum Gesetzesentwurf zur Netzneutralität sagte, wurde daraus am Runden Tisch der Regierungen (EU-Rat) ein Anti-Netzneutralität-Gesetz. Dieser Gesetzentwurf wandert jetzt erneut zur Abstimmung ins EU-Parlament.
Ende offen!
Im schlechtesten aller Fälle wird sich die Mehrzahl der privaten Smartphone- Tablet- und Computer-Nutzer irgendwann fragen, warum sie diese Orte „wo die Piraten sind“ (Oetinger) nie aufsuchten, um die „talibanähnliche Entwicklung“ (Oetinger) der Netzneutralität in ihrem Sinn wirkungsvoll beeinflusst zu haben.
Spätestens dann, wenn aus ihren bisher ungebremsten Datenströmen eine tröpfelnde Leitung wurde!
Drosselkom*: Die Telekom musste nach einem Urteil des Landgerichts Köln die beabsichtigte Volumeneinschränkung bei Festnetz- Flatrate-Verträgen zurücknehmen.
Update 21.März: Anschaulicher Vergleich zwischen bezahlter Überholspur und normalem Routing.
Provider „Init 7“ (CH) hat eine Vergleichsmöglichkeit online gestellt, wo man sich jeweils Audio- und Video-Stream auf dem normalen Weg und über die teure “Überholspur” ansehen kann. Der Unterschied ist auch außerhalb der “Primetime” bereits deutlich.
File-Download dauert mittlere Ewigkeit, bezahlte Überholspur bietet einwandfreie Qualität.