Warum man von Prognosen nicht runterbeißen kann
Es gibt einen Grund, nein, es gibt mehrere Gründe warum die seit 2012 kurz vor der Tagesschau um 20 Uhr ausgestrahlte ARD-Sendung „Börse vor acht“, im März 2022 in „Wirtschaft vor acht“ umbenannt wurde.
Zum einen ging dem Gros der eigentlich auf die Tagesschau wartenden Zuschauer mangels Aktienbesitz das Börsengesumse am Allerwertesten vorbei, zum anderen wurden aus den von abwechselnd 7 (sic) Moderatoren aus der Kulisse der „Frankfurter Börse“ verkündeten „Ereignissen vom Börsen-Markt“ über die Jahre „Nachrichten aus der Wirtschaftswelt“. Mit veränderten Sendungstitel wollte man jetzt auch dem unbedarftesten Zuschauer den Anspruch verdeutlichen, dass man ihm vor der Tagesschau nun „tagesaktuelle Ereignisse aus der Wirtschaftswelt anschaulich präsentieren“ wird.
Da die Sendung, trotz Titeländerung und Fokus auf „Wirtschaftsleben“, unverändert aus den Räumen der „Frankfurter Börse“ übertragen, und darin auch weiterhin von Wirtschaftsrelevanz hinsichtlich Aktienkursen schwadroniert wird, räumt Jens Berger im nachfolgenden Artikel diese Relevanz ab.
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Börsenkauderwelsch
Von Jens Berger
Wer sich in seinem Leben mal ein wenig mit Wirtschaftswissenschaften beschäftigt hat, kann bei der Börsenberichterstattung nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Da wird von „Investments“ schwadroniert, und jedes Husten der Märkte hat dann so und so viel Fantastilliarden Euro oder Dollar vernichtet. Das ist streng genommen alles kompletter Unsinn, aber keinen scheint das zu interessieren. Man hat sich an die esoterische Sprache und Denke der „Finanzprofis“ gewöhnt. Zeit, noch einmal an ein paar Grundlagen zu erinnern.
Ist der Kauf einer Aktie wirklich aus volkswirtschaftlicher Sicht eine Investition? Nein, in der Regel ist er das nicht. Aktien sind Anteile von Unternehmen. Als Investition gilt in der klassischen Volkswirtschaftslehre der Erwerb von Sachkapital auf langfristiger Basis zum Zweck der Güterproduktion – wobei diese Güter auch immateriell sein können. Klingt kompliziert? Ist es aber nicht. Grob vereinfacht kann man sagen, dass eine Investition im weitesten Sinne in die Wirtschaft fließen muss, um letztlich etwas zu erschaffen, was vorher noch nicht da war. Genau das ist beim normalen Aktienhandel aber nicht der Fall.
Wenn Sie sich zum Beispiel eine Aktie kaufen, dann muss auf der Gegenseite jemand anders ihnen diese Aktie verkaufen. Das Geld fließt also von Person A zu Person B. Das Unternehmen, dessen Aktie hier gehandelt wird, hat mit der ganzen Transaktion überhaupt nichts zu tun. Sie „investieren“ somit nicht in das Unternehmen, sondern geben das Geld einer anderen Person, und was die damit macht, ist unbekannt und hat dann ohnehin nicht mehr mit dem Aktienhandel zu tun. Wenn Ihr Geld nicht dem Unternehmen, dessen Aktie sie kaufen, zufließt, „investieren“ sie auch nichts in das Unternehmen. Sie wetten vielmehr auf den künftigen Preis dieser Aktie – eine reine Finanzspekulation, losgelöst von der Realwirtschaft. Das ist aber noch nicht alles: Streng genommen ziehen Sie als Aktionär sogar Geld aus dem Unternehmen heraus – die berühmte Dividende, die meist jährlich an die Aktionäre ausgeschüttet wird. Zugespitzt könnte man das dann eine Desinvestition nennen, da Finanzmittel, die das Unternehmen eigentlich investieren könnte, so das Unternehmen verlassen.
Ist das immer so? Nein! Die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, sind der Börsengang eines Unternehmens und die Ausgabe neuer Aktien – im Branchenslang IPO und Kapitalerhöhung. Ersteres findet naturgemäß nur ein einziges Mal im Leben einer Aktiengesellschaft statt, Letzteres ist zumindest sehr selten. 2023 hatten alle Börsengänge von Aktiengesellschaften in Deutschland zusammen ein Volumen von 1,9 Milliarden Euro. Im gleichen Jahr wurden allein am Handelsplatz Frankfurt am Main Aktien im Wert von 1,2 Billionen Euro gehandelt – mehr als das 600-Fache. Das „Investitionsvolumen“ des deutschen Aktienmarktes beträgt also weniger als 1,3 Promille des gesamten Handels. Hier wird nicht investiert, hier wird spekuliert. Warum sprechen die Medien dann stetig von Investitionen?
Und wie sieht es mit den Gewinnen und Verlusten aus, die angeblich beim Auf und Ab an Märkten immer wieder entstehen sollen? Nun, als ich vor vielen, vielen Jahren Wirtschaftswissenschaften studiert habe, lehrte man noch, dass bei der Buchführung und der Bilanzierung das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns gelte. Und so ein ehrbarer Kaufmann bilanziert Gewinne erst dann, wenn sie realisiert sind. Alles andere sind „Buchgewinne“ – theoretische Größen, die nur dann echte Gewinne wären, wenn man die Papiere zu diesem Zeitpunkt verkauft. Und bis diese Gewinne tatsächlich realisiert werden, sind sie daher lediglich Zahlenspiele im luftleeren Raum. Besonders absurd ist es, wenn ein Rückgang dieser abstrakten Buchgewinne dann als Verlust bezeichnet wird. Mit solchen Aussagen wird suggeriert, dass sinkende Kurse auf Wertpapiere tatsächliche Verluste seien. Jedem Kaufmann, der sich mal mit den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung beschäftigt hat, rollen sich da jedoch die Zehennägel hoch.
Dazu ein kleines Rechenspiel: Ihnen gehört ein kleines Stück Land mit einem Schrebergarten, für das Sie einmal 10.000 Euro bezahlt haben. Beim Anlegen eines Gemüsebeets stoßen Sie auf einen goldfarbenen Klumpen Metall. Ihr Fund spricht sich schnell herum, und schon am nächsten Tag stehen mehrere Geschäftsleute vor Ihrer Tür, die Ihnen für Ihren Garten eine Million Euro bieten. Sie wollen jedoch abwarten und den Metallklumpen untersuchen lassen. Eine Woche später bekommen Sie das Gutachten, das Sie als glücklichen Besitzer eines Grundstücks mit einer Pyritader (im Volksmund Katzen- oder Narrengold) ausweist. Niemand ist nun mehr an ihrem Grundstück interessiert, und der Verkehrswert beträgt wieder 10.000 Euro – wie ehedem. Haben Sie nun tatsächlich 990.000 Euro verloren? Natürlich nicht, denn der Wert von einer Million Euro war nie real, sondern nur ein Erwartungswert, der auf falschen Prognosen beruhte.
Ähnlich verhält es sich mit den hochgejazzten Preisen für Aktien, die oft ebenfalls auf falschen Prognosen basierten. Dies führte zu zwischenzeitlichen Buchgewinnen, aus denen dann Buchverluste wurden. Echte Gewinne und Verluste sind aber nur die Gewinne und Verluste, die auch realisiert wurden. Anders als bei den Buchgewinnen und Buchverlusten sind die realisierten Gewinne und Verluste jedoch streng genommen ein Nullsummenspiel. Oder um es mit einem Aphorismus des Bankers Amschel Meyer Rothschild zu sagen:
„Ihr Geld ist nicht weg, mein Freund, es hat nur ein anderer.“
Dies im Hinterkopf ist es auch reichlich abstrus, die Altersvorsorge der Bevölkerung auf ein System zu stellen, das sich im positiven Planungsszenario durch Buchgewinne und ein Nullsummenspiel bei den realisierten Gewinnen kennzeichnet und bei dem es im negativen Planungsszenario lapidar heißt: „Deine Rente nicht weg, mein Freund, sie hat nur ein anderer.“ Vielleicht denken Sie ja mal darüber nach, wenn Sie demnächst die „Börse vor Acht“ schauen oder den Finanzteil Ihrer Zeitung lesen.
Dieser Artikel von Jens Berger, dem wir für das Recht der Zweitveröffentlichung danken, wurde zuerst auf den „NachDenkSeiten“ publiziert.