Denke nicht, fühle! – Politik als Seifenoper

Lesedauer 10 Minuten

Ein Blick auf die politische Tränendrückerei.

Da kann eine nur mit Mühe ihre Tränen unterdrücken. Einer weiteren steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben und eine andere Person wirkt schockiert und muss getröstet werden.

Nein, hier werden keine Emotionen von Fußballfans nach einem verlorenen Spiel beschrieben. Diese Gefühlsbeschreibungen geben die gerade gängig gewordene Zurschaustellung emotional bewegter Politiker wieder, die bewusst versuchen, gefühlige Schnulzen-Bilder zu produzieren, statt rationale Politikvermittlung zu betreiben.

Dürfen Politiker denn keine Gefühle zeigen? Doch! Aber bitte nicht in Form einer manipulieren wollenden Künstlichkeit. Dagmar Henn beleuchtet diese politische Tränendrückerei.

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Deutsche Politik: Emotionale Überwältigung statt Vernunft

Von Dagmar Henn

Nie war so viel Gefühl – quer durch die Medien –, was früher einmal auf die Bild-Zeitung begrenzt war: Tränenausbrüche bei Politikern, die mit bebenden Stimmen beteuern, an wessen Seite sie diesmal stehen. Das sollte, das müsste Erinnerungen wecken.

Vor einigen Jahren war ich an den Recherchen für eine Dokumentation über moderne Musik in Deutschland nach 1945 beteiligt. Dabei stieß ich auch auf die Vorgabe der Nazis, die sie in ihrer „Kulturpolitik“ ihren Orchestern machten: Musik müsse emotional überwältigen.

Die Musik, die nach 1945 entstand – und zwar sowohl in der westlichen wie in der östlichen Republik –, war sehr deutlich davon geprägt, Gefühle durch den Verstand zu erzielen. Wenn man die Stücke von Hanns Eisler hört, sind sie oft sehr wohl emotional intensiv, aber mit einem an die Zügel gelegten, vom Nachdenken begleiteten Gefühl, und mit einer gewissen Vorsicht dargeboten.

Eine ähnliche Haltung fand sich auf vielen Ebenen. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit der Beflaggung – über viele Jahrzehnte fand sie sparsam statt, nur zu bestimmten Anlässen. Das große Drama war beiderseitig eher fremd, und Helmut Kohls Versprechen der „blühenden Landschaften“ war vor dem Hintergrund der herrschenden politischen Kultur schon ein Übermaß an Pathos.

Diese Formulierung mit der emotionalen Überwältigung geht mir nicht mehr aus dem Sinn, wenn ich die Berichterstattung und Politik der letzten Jahre betrachte. Die letzten Spuren der damaligen Zurückhaltung sind geschwunden; es wird gefühlt, es werden sogar öffentlich ministerielle Tränen vergossen, als wäre die Weltpolitik eine gigantische Seifenoper. Hemmungslos wird der öffentliche Raum „zudekoriert“, es wird beflaggt und angestrahlt, und immer ist das Ziel nicht eine nüchterne Überzeugung, sondern eine emotionale Reaktion, die eine völlige Identifikation mit einer vorgegebenen Haltung auslösen soll.

Ja, das gab es auch in den Jahrzehnten davor. Aber als beispielsweise der US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“ bezeichnete, betrachteten europäische Intellektuelle (auch in den Medien) das als einen Ausfluss einer gewissen US-amerikanischen Kindlichkeit, als eine überzogene Formulierung, die selbst jene nicht übernahmen, die die dahinter stehende Ansicht teilten.

Nun ist alles Gefühl. Auch zu Corona-Zeiten, aber spätestens bereits seit der „Willkommenskultur“ des Jahres 2015. Und es sind nicht die langsamen, dauerhaften Gefühle, sondern Wut, Empörung, Verachtung und eine distanzlose Identifikation.

Es gibt natürlich weitere Entwicklungen, die eine derartige Tendenz fördern. Beispielsweise die alltägliche Überlastung mit nur begrenzt nützlichen Informationen, ob es nun der Lageplan des nächsten Supermarktes ist, das Betriebssystem des neuesten Telefons oder das Habecksche Heizungsgesetz. Das alles miteinander löst eine paradoxe Reaktion aus, denn der Anteil des täglichen Lebens, der völlig unkontrollierbar zu sein scheint, wird stetig größer, während eine generelle Abneigung entsteht, noch weitere Informationen aufzunehmen. Unter diesen Voraussetzungen ist es leicht, Widersprüchlichkeiten und komplexere Zusammenhänge zu übergehen. Die Zuhörer sind längst satt von all den Veränderungen, die sie täglich verarbeiten müssen.

Der zweite Faktor, der eine Emotionalisierung stützt, ist eine sinkende Aufmerksamkeitsspanne. Die heutige Gesellschaft ist auf Bilderschnipsel konditioniert, und den meisten Jugendlichen fällt es bereits schwer, ihre Aufmerksamkeit länger als eine Viertelstunde auf ein bestimmtes Thema zu lenken. Selbst zum Lernen wird von ihnen lieber auf Erklärvideos als auf Bücher zurückgegriffen.

Das Bild, insbesondere das bewegte Bild, erzeugt eine Illusion von Wahrheit. Es ist weitaus leichter, noch eine gewisse Distanz zum geschriebenen Wort zu wahren als zu Bildern und Videos. Und das, obwohl Filter, durch die eine Information gezeigt und verstärkt, eine andere aber unterschlagen wird, im Visuellen mindestens so ausgeprägt sind wie bei Geschriebenem. Während aber beinahe jeder aus eigenem Erleben nachvollziehen kann, wie in einer Erzählung Teile verschwiegen, andere betont werden, ist der technische Apparat, durch den manchmal aus zweihundert Stunden Filmmaterial ganze zehn Minuten Darbietung entstehen, den meisten fremd, von den inzwischen vorhandenen technischen Möglichkeit der nahezu perfekten Verfälschung ganz zu schweigen.

Dabei erweist sich die Kontrolle darüber, welche Bilder sichtbar werden dürfen, immer wieder als brüchig. Die Bilder aus dem Donbass, die den ukrainischen Beschuss belegten, störten die Erzählung, die seit 2014 gepflegt wurde. Also wurden Dutzendweise YouTube-Kanäle gelöscht, die diese Bilder verfügbar machten. Während die Auseinandersetzung um das geschriebene Wort im 19. Jahrhundert letztlich mit einem Sieg über die Zensur endete, ist die Auseinandersetzung um das bewegte Bild immer noch in ihren Anfängen. Schließlich ist die technische Möglichkeit, Ereignisse zu filmen und diese Aufnahmen zu verbreiten, erst seit einigen Jahren derart allgemein verfügbar.

Die Kontrolle über die Bilder erweist sich jedoch nur als Mittel zum Zweck, und das Ziel ist nicht einfach nur, die Erzählung selbst zu beherrschen, sondern mit dieser Erzählung Gefühle aufzurufen, die nutzbar gemacht werden können, also Gefühle zu wecken, die stark genug sind, die Barrieren des Verstandes niederzureißen – emotionale Überwältigung eben.

Man konnte das bei der Erzählung zum ukrainischen Butscha gut beobachten. Die Bilder, die damals als schrecklich und brutal tituliert wurden, konnten die gewünschte Wirkung nur bei jenen entfalten, die keinerlei Vergleich vornehmen konnten. Sie wurden nicht eingesetzt, um zu informieren, sondern um eine emotionale Übereinstimmung mit der Linie von NATO und EU zu erzeugen. Dabei ist es absolut zentral, zunächst auch noch die Rolle des Bösen zu besetzen; ist sie nicht zugewiesen, erzeugen derartige Bilder schließlich vor allem den Wunsch, die Kämpfe zu beenden und einen Weg zum Frieden zu finden. Die politische Perversion der Erzählung von Butscha erweist sich vor allem daran, dass sie erfolgreich die Aufmerksamkeit von der Tatsache ablenkte, dass die Verhandlungen in Istanbul beinahe schon zu einem Friedensschluss geführt hatten, ehe sie am Ende vom Westen sabotiert wurden.

Inzwischen hat die Darbietung des gewünschten Gefühls schon etwas von Pawlowscher Konditionierung an sich. Jedes auch nur ansatzweise bedeutende Thema wird in einem Komplettpaket serviert – dies ist der Anlass der Empörung, dort sind die Guten und das sind die Bösen – und nun fass! Als hätte es die Epoche der Aufklärung niemals gegeben, als würde es genügen, von Hexerei zu raunen, und schon werden eifrig die Scheite aufgeschichtet.

Auf paradoxe Weise ist das schon fast ein Beleg für das Gute im Menschen. Ohne das Element der Raserei, ohne diese gelenkten Emotionen wäre die Reaktion beispielsweise auf die Bombardierung von Gaza schlicht: „Und was soll weiteres Leid bitte an dem zuvor zugefügten Leid ändern?“

Aber diese normale erwachsene Einstellung erodiert, oder vielmehr wird sie erodiert. Der Kult der Diversität, der derzeit im Westen praktiziert wird, drängt nicht nur die Wahrnehmung menschlicher Gleichheit in den Hintergrund, die für Humanität so zentral ist wie für wirklichen Frieden; sie hebt auch die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen auf, die untrennbar mit jener zwischen Trieb und Bewusstheit verknüpft ist. Das Öffentliche ist ein Raum, der nur entsteht, wenn die Triebe und die Gefühle kontrolliert werden. Wird diese Kontrolle aufgehoben, ist es keine geordnete Gesellschaft mehr, sondern ein Mob.

Bei Brecht finden sich viele Texte, in denen er sich mit diesen emotionalen Manipulationen befasst hat. Seine Ablehnung ging so weit, dass er die Forderung aufstellte, dem Schauspieler müsse jederzeit anzusehen sein, dass er eine Rolle spielt. Er war vor hundert Jahren nahe genug bei den Anfängen Hitlers, um über dessen Schauspielunterricht zu schreiben und darüber, dass der seine Reden vor dem Spiegel einzustudieren pflegte.

Damals war das ein in der Politik befremdliches Maß an Künstlichkeit. Aber nun ist diese Künstlichkeit wieder zurück, auf dem Umweg erst über den Kult der persönlichen Betroffenheit bis hin zu den heutigen Kunstfiguren, die das „Arbeitsergebnis“ von PR-Beratern, Visagisten und Hoffotografen sind.

Die auffällige Kindlichkeit von Gestalten – wie etwa der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock – wirkte zuerst wie ein persönlicher Makel, eine Unfähigkeit, Rolle und Person zu trennen. Aber wenn man die immer weiter fortschreitende Emotionalisierung betrachtet, die derzeit gerade bei geopolitischen Fragen stattfindet, wirkt das eher wie das erforderliche Vehikel. Denn man braucht die Identifikation, damit das Publikum die gewünschten Gefühle entwickelt; darum sind die Gestalten, die diese Gefühle vermitteln, so distanzlos, so unpassend menschelnd.

Im obigen Bild links, auf dem sich der deutsche Bundeminister der Verteidigung Boris Pistorius auf seiner Reise nach Israel ausgerechnet von seinem israelischen Gegenstück trösten lässt, der zuvor in seiner Wortwahl aus den Palästinensern „menschliche Tiere“ gemacht hatte, während es bei besagter Reise tatsächlich um Waffenlieferungen ging, kann geradezu symbolisch für diese Entwicklung stehen.

Was in Deutschland – und nicht nur in Deutschland – auf diese Weise erzeugt wird, ist ein Zustand permanenter Hysterie, der Verhaltensweisen ermöglicht, die unter normalen Umständen schon aus Gründen der Scham unterbleiben würden. Es ist die grundlegende Lektion des Erwachsenseins, sich in das Gegenüber hineinversetzen zu können; das ist zwar nicht Voraussetzung der Sexualität, aber Voraussetzung der Liebe. Es ist genau diese Empathie, die in allen politischen Kampagnen spätestens seit Corona massiv bekämpft und mit allen Mitteln tabuisiert wird. Emotionale Überwältigung ist dabei sowohl Mittel als auch Zweck.

Das Schlimme daran ist, dass diese Überwältigung immer ein durchaus erkennbares Ziel hat. Sie blendet das Politische aus, um ein politisches Ziel zu erreichen, das in der Regel Blutvergießen heißt – und zwar in großem Maßstab. Momentan geht es darum, eine globale Hegemonie zu sichern, und da werden alle Register gezogen, ohne jede Hemmung. Die Manipulation des Gefühls ist so allgegenwärtig, wird derart hemmungslos ausgereizt, dass ein Joseph Goebbels vor Neid erblassen würde.

Man könnte meinen, dass die „Wissenschaft“, die zwar im Zusammenhang mit Krieg und Frieden nicht, aber bei den Themen Klima und Corona immer wieder betont wird, für Rationalität steht. Aber das tut sie nicht. Genauso wenig wie die unzähligen Stiftungen, die vorgeben wollen, welche Information als wahr gelten soll. Letztlich vermitteln sie alle die gleiche Botschaft: Denke nicht, fühle! Ob die externe Instanz, der das Denken übertragen werden soll, nun „die Wissenschaft“ oder „der Führer“ heißt, macht letztlich keinen Unterschied. Entscheidend ist die Ersetzung des Denkens durch das Gefühl.

Der kindliche Zustand, der dadurch hervorgerufen wird, ist von innen so verführerisch, wie er von außen abstoßend ist. Man konnte das in Videos aus der Ukraine schon 2014 sehen. In jenen Aufnahmen, auf denen Jugendliche zu Mordparolen auf dem Schulhof hüpften. Die Versuchung dieses Zustands liegt im Abstreifen der Verantwortung, dieser schweren Last, selbst moralische Entscheidungen treffen zu müssen. Es ist diese Verleugnung von Verantwortung, diese falsche Kindlichkeit, die die wirklich großen Menschheitsverbrechen ermöglicht.

Man kann wissen, wohin dieser Kahn steuert, gerade in Deutschland. Aber das Erwachen aus dem emotionalen Rausch ist mühsam und unangenehm. Meist braucht es dafür erst eine unübersehbare Niederlage oder zumindest einen Zustand, in dem die materiellen Realitäten ihr Recht fordern und dem Einzelnen abverlangen, wieder selber zu denken. Es ist übrigens – auch das sollte man nicht vergessen – völlig gleichgültig, ob dieser Zustand gezielt herbeigeführt wurde oder als Ergebnis einer Verkettung ungünstiger Umstände zurückkehrte. Es ist klar, wohin er führt, und auch das Gegenmittel ist bekannt – ein eisernes Beharren auf der Vernunft.

Der Artikel von Dagmar Henn, der wir für das Recht der Zweitveröffentlichung danken, erschein zuerst beim Feindsender RT.

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