Ich nenne es Papierverschwendung, andere eine Gratis-„Bild zum Mauerfall“

Lesedauer 4 Minuten

Eine persönliche Betrachtung zum Jahrestag des Mauerfalls vor 25 Jahren

Ob man wollte oder nicht: Am vergangenen Samstag, 8. November, steckte mal wieder eine Gratis-Bild im Briefkasten. Dabei wollte ich doch diesmal dieser Gratisgabe aus dem Springer-Verlag entkommen und einen Anti-Bild-Aufkleber an meinen Briefkasten anbringen. Zu spät. Der Aufkleber liegt noch in der Tischschublade und die „Bild zum Mauerfall“ nun obenauf.

Als Zeitgenosse, der sich schon immer an der absichtsvoll mehrdeutigen Formulierung „Kanzler der Einheit“ abarbeitete, begann die Zumutung bereits auf der zweiten Seite dieser “ an über 40 Millionen Haushalte“ verteilten Gratis „Bild zum Mauerfall“.

Ein Mann im Herbst, im Rollstuhl. Wie sein eigenes Denkmal sitzt er da. In der Stille„, stand da unter einem riesigen, mit „DAS DENKMAL“ betitelten, dreiviertel der Seite bedeckenden Foto. Vor dem nächtlichen Brandenburger Tor, formatfüllend im Halbschatten und gespenstisch im Gegenlicht abgebildet, sitzt auf dem menschenleeren Platz davor ein dem Betrachter abgewandter Mann im Rollstuhl. „Er blickt auf einen schicksalhaften Ort der Deutschen – und sein Lebenswerk„, tropft es aus fettgedruckten Zeilen.

Einige Zeilen weiter wird auch dem letzten Schnellmerker aufgeschrieben, wer da „an einem Herbstmorgen des Jahres 2014 im Herzen Berlin(s)“ vor dem Brandenburger Tor sitzt und auf „sein Lebenswerk“ blickt. Es ist (soll) Helmut Kohl, „der Kanzler der Einheit“ sein.

Bang fragt der Schreiber: „Was werden seine Gedanken sein? An diesem Ort? An diesem Herbstmorgen, 25 Jahre nach dem Mauerfall?„.

Bevor ich mich an dieser Volkshochschul-Lyrik verschlucke, höre ich auf zu lesen und versuche mir für einen kurzen Moment vorzustellen, wie es dazu kam, dass „Fotokünstler Andreas Mühe Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl in einem ganz privaten Moment vor dem Brandenburger Tor inszenieren“ konnte. (Verlagsangabe)

Wann war das Fotoshooting? Vor oder nach der Spiegel-Veröffentlichung zur Buchvorstellung „Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle“ des früheren Helmut Kohl Biografen Heribert Schwan. Unter den darin zitierten Auszügen aus Tonband-Protokollen von Helmut Kohl befindet sich auch die folgende, die Bürgerrechtsbewegung und den Zusammenbruch des Regimes in Ost-Berlin betreffende Aussage:

Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert. Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er am Arsch des Propheten war und das Regime nicht halten konnte„.

Der „Kanzler der Einheit“ war sich also durchaus darüber im Klaren, dass er zum Zeitpunkt des Mauerfalls und der anschließenden Wiedervereinigung nur der Kanzler, nicht aber der Verursacher „der Einheit“ war. Dafür, und für die unabdingbare Vorgeschichte waren Andere verantwortlich. Er durfte im Anschluss den Wunsch nach staatlicher Einheit vortragen, doch die Strippen zogen auch dabei Andere.

Einige der wirklich „wichtigen“ Wegbereiter der deutschen Einheit kamen am Sonntag nach Berlin. Zusammen mit ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern feierten, jubelten und klatschten Hunderttausende mit „Gorbi„, dem früheren sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, Ungarns ehemaligen Ministerpräsident Nemeth oder dem ehemaligen Chef der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, Lech Walesa am Brandenburger Tor.

Bei einer großen Open-Air-Party stiegen entlang einer 15 Kilometer Strecke ca. 8.000 Ballons in den Berliner Himmel auf. Eine „Ballonmauer„, die 25 Jahre nach 1989 anstelle der früheren Betonmauer zu den Klängen von Beethovens 9. Symphonie „Ode an die Freude“ Ballon für Ballon im Nachthimmel verschwand.

Bei dieser Fernsehübertragung aus Berlin lief mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich fühlte mich an die Fernsehbilder der Nacht vor 25 Jahren erinnert. Aber auch wieder an die zweite Seite der „Gratis-Bild“ mit dem Bild des Nachts vor dem Brandenburger Tor sitzenden Rollstuhlfahrer.

Es ist kalt, sagt endlich der alte Herr im Rollstuhl und unterbricht jäh die einsamen Gedanken„, ging der Text unter dem Bild weiter. Bei dieser Gefühlsregung des Altkanzlers verspürte der schreibende Beobachter der nächtlichen Szene „vor allem eines: wie wach sein Geist ist. Er strahlt Gelassenheit aus.“

Ich hingegen verspürte beim Betrachten dieser in kalten Farbtönen festgehaltenen Alt-Kanzler-Inszenierung  etwas anderes.
Mich ergriff etwas, wovon ich dachte, das es mir zusammen mit Gedanken an Helmut Kohl nie unterlaufen würde:
Mitleid.

Wer hatte Kohl das eingeredet, was konnte er dabei gewinnen und wer hatte ihn in kalter Nacht auf diesen Platz geschoben um triefend schmalzig eine Legende zu beleben, die Geschichtsbewusste weder bisher glaubten, noch je glauben werden. (Es wäre Kohl zu wünschen, das Foto zeigte ein Double)

Gewonnen aber hat der Springer Verlag.
Nach Verlagsangaben kostete eine Anzeigenseite in dieser 22-seitigen Gratis-Bild 4 Millionen Euro.
Bei 6 ganzseitigen, 4 viertelseitigen und 2 halbseitigen Anzeigen dürfte es sich gerechnet haben Deutschlands Briefkästen zu verstopfen.

Meinen demnächst nicht mehr.
Der Anti-Aufkleber klebt jetzt!!!!!

Über Bernd Schuhböck

Nicht nach heutigen, jedoch nach den Maßstäben der Ära Willy Brandt politisch eher linksliberal. Wer ihn missverstehen möchte, nennt ihn einen Sozialromantiker. Wer ihn kennt, wertkonservativ und mit zu viel Ethos für einen Bayer. Der Mann für´s kommunale, soziale oder sonstwie politische. Oder für Themen, für die sich keiner fand, der sie aufgreifen wollte.

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