Wer mit dem Titelbild schon überfordert ist, sollte weiter gehen, da ihn der Artikel sicherlich auch überfordern würde.

Ist es besser falsch zu regieren, als nicht zu regieren?

Lesedauer 17 Minuten

Der abschüssige Weg vom „guten Nachbarn“ vor 50 Jahren, zum Deutschland, das sich im „Krieg gegen Russland“ sieht.

Mein Sohn war gerade geboren, als ich 1988 das von „Genesis“- Gitarrist Mike Rutherford für sein Solo-Projekt „Mike + the Mechanics“ komponierte Lied „The Living Years“ zum ersten mal hörte. Ein eingängiger Song, der die Verständigung zwischen den Generationen anmahnte.

Da dachte ich noch, naja, ich werde sicher nicht zu dieser Elterngeneration gehören, die ihren Kindern eine offene und ehrliche Kommunikation verweigert, oder ihnen ein für sie unausweichliches Schicksal hinterlassen wird.

Heute, einige Jahrzehnte und viele Regierungen später, muss ich schmerzlich erkennen, dass ich, obwohl damals schon kein Jungsspund mehr, beseelt von politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Fortschritten und der Früchte tragenden Entspannungspolitik jener Zeit, dieses „wir werden nicht wie unsere Väter“-Vorhaben zwar persönlich gut gemeistert, in gesamtstaatlicher Hinsicht jedoch ziemlich naiv betrachtet habe.

Meine, und nicht wenige Generationen danach, haben versagt. Und das, obwohl kurze Zeit nach 1945 anfänglich alle Zeichen auf Fortschritt, auskömmlichem Volkswohl, prosperierender Wirtschaft und friedlicher Koexistenz innerhalb Europas und der Welt standen.

Doch diese Zeichen sind verblasst. Aus Beschäftigungsverhältnissen mit auskömmlichen Löhnen für alle Arbeitnehmer (aktuell 41 Mio) wurden für 1/5 aller Arbeitnehmer nur Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor, und für rund 39 % aller Arbeitnehmer bleiben Teilzeitarbeitsplätze. Aus positiv besetzten Wörtern wie Frieden oder Pazifismus wurden Schimpfwörter, aus Sozialwohnungen luxussanierte Edelabsteigen, aus dem Staatsziel Wohnraum für alle wurde Wohnungsnot, aus Rentenreformen wurde Altersarmut und allgemeines Volkswohl kann man an Flaschen aus Mülleimern klaubenden und für Lebensmittelspenden an Ausgabestellen anstehenden Mitbürgern ablesen. 

Wir haben zugelassen, das Politik und „veröffentlichte Meinung“ einem Großteil unserer Bevölkerung ein unausweichliches Schicksal im Niedergang bescherte, und, die Ironie ist unverkennbar, die derzeitige Regierung mit Fortschritt suggerierenden Floskeln wie „Deutschland Tempo“ etwas gegenteiliges suggeriert, jedoch durch ihr Handeln den Niedergang weiter vorantreiben wird. Mit einer Regierung, die Schulden als „Sondervermögen“ bezeichnet, mit der ist in absehbarer Zeit „kein Staat mehr zu machen“ der sich grundsätzlich an nationalen Interessen ausrichtet.

In der nachfolgenden, zugegeben langen Betrachtung der letzten gut 50 Jahre, habe ich versucht diese Entwicklung Deutschlands zu erfassen.

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Ein desillusionierender Blick auf die Veränderungen der letzten 5 Jahrzehnte in Deutschland.

Was veränderte sich in Deutschland im Zeitraum zwischen dem von Kanzler Willi Brandt am 28. Oktober 1969 abgegebenen Bekenntnis „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden“, und einer am 24. Januar 2023 von der derzeitigen deutschen Außenministerin Annalena Baerbock abgegebenen Erklärung, in der die, bei der BT Wahl 2021 gescheiterte Kanzlerkandidatin vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats davon sprach, „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“?

Zwischen den Zitaten „gute Nachbarn sein“ und „Krieg gegen Russland“ liegen ereignisreiche Jahre, wovon die letzten Monate in dieser über 50 Jahre umfassenden Zeitreihe, vom amtierenden Kanzler 2022 mit dem Wort des Jahres „Zeitenwende“ umfasst, als besonders geschichtsträchtig bezeichnet werden können.

Eine Zeitspanne, beginnend mit internationaler Anerkennung für Brandts Entspannungspolitik, einem Vertrag zum deutsch-sowjetischen Gewaltverzicht und der Verleihung des Friedensnobelpreises 1971 an Brandt. („Das deutsche Volk braucht den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes auch mit den Völkern der Sowjetunion“)

Die Zeitspanne endet mit internationalem Kopfschütteln über Deutschlands oberste „Diplomatin“, die sich nicht, wie Brandt es in seiner Nobelpreisrede von Politikern forderte, „aktiv um die Organisation des Friedens bemühen“ will, sondern Russland „ruinieren“, und mit „We are fighting a war against Russia“, einem „verrutschten Satz“, wie das ZDF Baerbocks dummes Statement abzuwiegeln versuchte, von Straßburg aus den Krieg erklärte. (Was in der erfolgreichsten Fernsehsendung der USA in der Feststellung des Moderators gipfelte, sie sei ein Idiot. („She’s a jerk„)

Was geschah, was veränderte sich? Zunächst die positiven Seiten.

Innerhalb des Zeitraums von Ende 1969 bis Anfang 2023 kam es zur Wiedervereinigung, dem Abzug der russischen Truppen, nicht zuletzt wegen billiger Energielieferungen aus der Sowjetunion und später aus Russland zur Steigerung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und des allgemeinen Wohlstands, zur Belebung und Verbesserung von Erwerbs- und Bildungsmöglichkeiten, und, -zumindest- bis zur Jahrtausendwende, hatte die Bundesrepublik überwiegend rational und verantwortungsvoll handelnde Politiker, die sich lange Jahre ausschließlich dem Wohle Deutschlands und seiner Bürger verpflichtet fühlten. Das waren die positiveren Merkmale dieser Zeit.

Deutschland hatte sich, nicht zuletzt durch die Einführung von Hartz IV und einer übertriebenen Lohnzurückhaltung, vom „Kranken Mann Europas“ (Magazin „Economist“) zu einer führenden Wirtschaftsnation entwickelt, und sei, so zumindest die auch von den USA beförderte Einschätzung maßgeblicher deutscher Politiker der letzten Jahre, nicht nur „ein reiches Land“ und die stärkste Volkswirtschaft in der Europäischen Union, sondern, wenn schon nicht „de jure“, so doch „de facto“, in allen Bereichen eigentlich die Führungsmacht in der EU.

Betrachtet man jedoch die ungeschönte Realität in Deutschland, also das, was sich mit Blick auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Gegebenheiten über die Jahre in Deutschland entwickelte, dürfte jedem -ausgenommen des Berliner Medien- und Politikbetriebs- schnell klar werden, das dieser Führungsanspruch auf einer Melange aus unzureichend gebildetem Politpersonal, deren einfältiger Selbstüberschätzung und einer gefährlichen, an dunkle Zeiten erinnernden Großmannssucht beruht.

Was mich zum negativen IST Zustand am Ende dieses hier betrachteten Zeitraums bringt.

Von dem in Sonntagsreden gern mit Bezug auf staatliche Ausgaben aller Art angeführten „reichen Land“ kann man sich schon mal verabschieden. Zwar hat Deutschland mit 51,6 Prozent derzeit eine der höchsten Staatsausgabenquoten in der EU.

Doch wo steckt dieser Reichtum?

Diesen Reichtum gibt es weder im Vergleich mit vielen anderen Ländern in der EU, noch blitzt er bei der Daseinsvorsorge, z.B. im Bildungs- oder Gesundheitswesen, oder der Qualität der Infrastruktur auf.

Womöglich verstopft dieser Reichtum die Faxgeräte in den öffentlichen Verwaltungen, die deshalb die Nachricht für den Beginn der in allen Bereichen dringend erforderlichen Digitalisierung einfach nicht ausspucken können?

Er versteckt sich zumindest nicht bei den Kindern in Deutschland, da jedes fünfte von ihnen arm bzw. armutsgefährdet ist. (2,8 Mio.)

Dieser ominöse Reichtum ist auch bei den Rentenbeziehern nicht zu finden, von denen 82 Prozent unter 1.500 Euro pro Monat erhalten. (Etwas mehr als die Hälfte aller Rentenbezieher bekommt nicht mal das. Sie müssen mit einer monatlichen Rente von unter 1.000 Euro auskommen)

Und doch, eine besondere Art von Reichtum kann man an mindestens 960 Stellen in Deutschland betrachten. Wir sind im Vergleich mit anderen Ländern in der EU reich an sogenannten „Tafeln“.  Über das gesamte Bundesgebiet verteilte gemeinnützige Hilfsorganisationen, die, von Freiwilligen organisiert, durch Lebensmittel- und Geldspenden etwa zwei Millionen armutsbetroffene Menschen mit Lebensmitteln versorgt. (Da 21,9 % der EU-Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, gibt es, jedoch in weit geringerer Anzahl als in Deutschland, Tafel ähnliche Hilfsorganisationen auch in anderen Ländern der EU)

Also nichts vorhanden von dem Reichtum.

Besonders betrüblich zeigt sich die Lage beim Blick auf die Einkommens- und Vermögenssituation in Deutschland.  

(Alle nun folgenden Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2021 und können HIER, als Grafiken für den schnellen Überblick, als auch in Datentabellen aufgerufen werden)

Ja, das heutige Deutschland (Stand 2021, Ergebnisbereitstellung Oktober 2022) ist zwar das Land mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der EU. (Als bevölkerungsstärkstes Land in der EU mit 83,2 Millionen Einwohnern und einer Erwerbstätigen-Quote von derzeit 75,8 % wäre es peinlich wenn´s anders wäre) Anmerkung: Mittlerweile wird das BIP auch als „Bruttonationaleinkommen“ (BNE) bezeichnet.

Würde man nun dieses BIP einfach durch die Anzahl der Bürger teilen (BIP pro Kopf), bekäme man zwar eine statistische Größe, doch dieses BIP im Verhältnis zur durchschnittlichen Bevölkerung würde nichts über deren Wohlstand oder die tatsächliche Einkommensverteilung in Deutschland aussagen.

Beispiele gefällig?

Einem Fünftel der Bevölkerung in Deutschland steht nur ein jährliches Nettoäquivalenzeinkommen von unter 16 300 Euro zur Verfügung. Danach kommen die 40 % der Bevölkerung, die ein Nettoäquivalenzeinkommen über 16 300 Euro, aber unter 22 000 Euro im Jahr zur Verfügung haben.

Knapp 32 % der Bevölkerung konnte 2021 keine größeren, unerwartet anfallende Ausgaben aus eigenen Finanzmitteln bestreiten. Wie auch? Wurden die Finanzen doch von den allein bei Lebensmitteln seit 2020 stark angestiegenen Preisen aufgezehrt. Gerechnet von 2015 bis 2022 betrug diese Preissteigerung rund 40%, bei gleichzeitig im selben Zeitraum von +2 % auf aktuell -5,7 % gefallenen Reallöhen in Deutschland. Nimmt man nun noch die gestiegenen Preise für Energie hinzu, dürften die Zahlen für 2023 noch prekärer ausfallen. (Besonders bei Lebensmittel verwandelt sich Deutschland zum Hochpreis-Land in der EU)

Auch im Bereich der Bildung, dem Weg zu Wissen, Wohlstand und Lebensqualität, verliert Deutschland den Anschluss. (Spiegelbildlich könnte hier die hohe Zahl der Studienabbrecher innerhalb des Politpersonals der Partei „Die Grünen“ gesehen werden) Im Bereich der „Tertiärabschlüsse“, das sind z.B. Abschlüsse an Unis, (Fach-) Hochschulen, Verwaltungsfachhochschulen, Berufs- und Fachakademien, Fachschulen und Schulen des Gesundheitswesens, bleibt Deutschland mit einer Quote von 30,9 % weit hinter den hier beispielhaft genannten Ländern wie Irland, Norwegen, Litauen, Slowenien oder Polen zurück. Rangiert im unteren Mittelfeld der Skala und befindet sich damit noch unter dem Durchschnitt der EU mit 33,4 %. (Nur so nebenbei: Russland ist mit 53,5 % das Land, das im internationalen OECD-Vergleich die höchste Akademikerquote vorweisen kann)

Bevor ich nachfolgend die Leistung und das Handeln der letzten Regierungen in unserem Land in den Blick nehme, möchte ich vorausschicken, dass sich der Amtseid, dieses nicht justiziable aber immerhin öffentlich gegebene Versprechen für Mitglieder der Regierung, bis zum heutigen Tag in der Passage „meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden …. werde“ im Laufe der Jahre nicht geändert hat.

In der Mitte dieses hier betrachteten Zeitraums beteiligte sich Deutschland unter dem besonders in militärischen Dingen ambivalent handelnden Kanzler Schröder an der völkerrechtswidrigen Bombardierung Jugoslawiens, verweigerte den USA danach zusammen mit dem französischen Präsident Chirac Truppen für den Irak Krieg zu entsenden, um dann 2001 eine Bundestagsabstimmung zu initiieren, in deren Folge dann doch deutsche Soldaten zur Unterstützung von US-Truppen nach Afghanistan geschickt wurden.

Mit dem Einsatz in Afghanistan waren deutsche Soldaten im ersten Auslandseinsatz nach 1945. Damit war Deutschlands Nachkriegsschwur „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“ passè.

Krieg? Mit deutschen Soldaten? Aber nicht doch.

Um das hässliche Wort „Krieg“ zu vermeiden, bezeichneten Politik, Medien und willfährige „Experten“ diesen am 2. Januar 2002 vor Ort begonnen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zuerst jahrelang als „Stabilisierungseinsatz„. Später als „bewaffneter Konflikt im Sinne des Humanitären Völkerrechts“ (wir bauten dort ja auch Mädchenschulen), und noch später als Einsatz in einem Gebiet mit „kriegsähnlichen Zuständen„.

Bis Karl-Theodor zu Guttenberg, der damalige Verteidigungsminister, bei einer Trauerfeier für in Afghanistan getötete Soldaten im April 2010 in seltener Klarheit eingestand, die Vorgänge in Afghanistan „bezeichnen die meisten verständlicherweise als Krieg. Ich auch.“ (In der Berichterstattung über diese Trauerfeier taucht seine Einlassung in dieser Form nirgends auf. Veröffentlicht wurde stattdessen eine Aussage von Gutenberg, in der er „in Bonn“ davon sprach, dass man „umgangssprachlich von Krieg reden” könnte)

Krieg hin oder her, Deutschlands Regierungen der letzten Jahre forcierten den Schulterschluss mit den jeweiligen US-Administrationen in „God’s own country“. Leider unter Inkaufnahme der Vernachlässigung deutscher Interessen. (Unter Donald Trumps Präsidentschaft in den Jahren 2017 bis 2021 machten man davon eine Ausnahme)

Hier wurde ein sich gern haben mit einer Nation zelebriert, dessen 27. Präsident, William Howard Taft, schon 1912 folgenden Allmachtsanspruch formulierte: „Die gesamte Hemisphäre wird uns gehören, tatsächlich gehört sie uns aufgrund der Überlegenheit unserer Rasse moralisch schon heute.“

Ein Schulterschluss mit einer Nation, die nicht wegen Bedrohung des eigenen Landes Kriege führte und führt, sondern Länder oder Regionen zu Schlachtfeldern erklärte, da sie der Durchsetzung ihrer nationalistischen Ideologie des Exzeptionalismus im Weg standen.

Weder verurteilten die politischen Eliten in Deutschland diesen Drang der USA, ihre selbstverordnete unipolare Weltgeltung auch mit Gewalt aufrecht zu erhalten, noch entzogen sie sich (siehe Schröder) den Wünschen nach militärischer Beteiligung. Selbst das seit Jahrzehnten offen ausgesprochene Ziel der USA, die nach Brandts begonnener Entspannungspolitik fortschreitend prosperierende „gute Nachbarschaft“ zwischen Deutschland und Russland zu hintertreiben, wollte man, wie zuletzt bei der Sabotage der Nord Stream Pipelines nicht sehen.

(„Die Deutschen haben ein sehr komplexes Verhältnis zu den Russen. Für die Vereinigten Staaten ist die Urangst, das deutsches Kapital und deutsche Technologie und die russischen Rohstoffe und russische Arbeitskraft sich zu einer einzigartigen Kombination verbinden, die den USA seit Jahrhunderten unheimliche Angst einjagen“.  -Georg Friedmann von STRATFOR – in einer Rede bei der Denkfabrik Chicago Council am 04.02.2015)

Ob aus politischer Unvernunft oder aus Mangel an Souveränität, der „gute Nachbar“ Deutschland wurde neben der Vernachlässigung der eigenen Interessen ein gegenüber den US-Wünschen außergewöhnlich behilflicher, gegenüber den Sorgen, Nöten und Ängsten Russlands jedoch zunehmend desinteressiert werdender Akteur.

An dieser Stelle empfiehlt sich ein Rückblick auf die zunächst gescheiterte Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017. Grüne und FDP konnten bei dieser Wahl zusammen ausreichend Stimmen auf sich vereinen, um eine erneute große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD zu verhindern. Zusammen mit der CDU/CSU wollte man eine, nach Parteifarben und den Farben einer Landesflagge benannte Jamaika-Koalition bilden.

Doch die Koalitionsverhandlungen scheiterten, FDP-Chef Lindner trat vor die Presse und erklärte den Rückzug seiner Partei aus den Verhandlungen mit „“Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren„. Damit war auch rein rechnerisch der Regierungszug für die Grünen abgefahren und am Ende reichten sich CDU/CSU und SPD die Hände zu einer erneuten großen Koalition.

Dies änderte sich nach der Wahl 2021. FDP und Grüne wollten nun nicht mehr mit CDU/CSU koalieren, sondern mit der SPD. Das Wort von einer „Fortschrittskoalition“ machte die Runde. In der aktuellen Lage, in die uns die dann tatsächlich gebildete Regierung aus SPD, Grünen und FDP gebracht hat, kann man beim besten Willen für Deutschland keinen Fortschritt in der Weiterentwicklung erkennen, doch zwei von den drei an der Regierung beteiligten Parteien haben gegenüber 2017 Fortschritte erzielt. In der Gestaltung von Sätzen!

Ging es 2017 noch darum, lieber nicht, statt falsch zu regieren, wird man sich bei den Grünen und der FDP beim Recyceln alter Wahlaussagen und deren Aufbereitung für die Wahl 2021 an Lindners damalige Aussage erinnert haben, die einzelnen Wörter davon in einen Knobelbecher durcheinandergewirbelt und den dadurch entstandenen neuen Satz als interne, nicht offen kommunizierte Zielvorgabe ausgegeben haben: „Es ist besser falsch zu regieren, als nicht zu regieren“.

Eine Zielvorgabe die mit dem derzeitigen Politpersonal leicht erreicht wird. Die Ministerriege um Kanzler Scholz behindert zum einen die Aufarbeitung gesundheitlicher Folgen fragwürdiger Corona Maßnahmen, zum anderen verantwortet sie die Verarmung großer Teile der Bevölkerung, den Niedergang der deutschen Mittelschicht und die Abwanderung von Teilen der Industrie.

Mit dem Verweis, der „böse Russe“ sei eigentlich an allem schuld, glaubt man im Zusammenschluss mit einer überwiegend regierungstreu und somit einseitig ausgerichteten „veröffentlichten“ Meinung, sich vor Schuldzuweisungen an die Regierung verstecken zu können, die sich in der „öffentlichen“ Meinung lauter werdender Bevölkerungsteile artikulieren.

Um es vorwegzunehmen:

Nein, Russland hat Deutschland nicht den Gashahn zugedreht. Wir taten es selbst. Und NEIN, Russland hat die Nord Stream-Pipelines nicht gesprengt.

Ja, Russland ist mit Truppen in Teilgebiete der Ukraine eingefallen. Aber ebenfalls ja, die Ukraine und „der“ Westen haben seit Beginn des Maidan Ende 2013 auf diese Reaktion Russlands hingearbeitet. Und besonders schlimm: Wie Ex-Kanzlerin Merkel Ende des Jahres 2022 erklärte, hatte sie 2015 zusammen mit den damaligen Präsidenten Poroschenko und Hollande mit der Unterzeichnung des Minsker Abkommen eine „diplomatische Imitation“ (Ex-Premier Boris Johnson) unterschrieben, in der sich die Unterzeichnerstaaten verpflichteten, Frieden und Autonomie im Donbass erreichen zu wollen, im Geheimen jedoch der militärischen Aufrüstung der Ukraine „unschätzbare Zeit“ zur Vorbereitung eines Krieges gegen Russland verschaffen wollte. (Die Perfidie in dieser Geschichte: Russland, das im Gegensatz zur Ukraine nicht zu den Unterzeichnerstaaten gehörte und demzufolge aus diesem Abkommen keinerlei Verpflichtungen entstanden, wurde nur Wochen später mit -nicht von der UN beschlossenen, also völkerrechtswidrigen- Sanktionen wegen „Nichteinhaltung des Abkommens“ überzogen. Einer der Vorgänge, der den Ruf Deutschlands als verlässlicher, Verträge einhaltender Partner nicht nur in Russland auf sehr lange Zeit ruinierte)

Mit der bisher gezeigten Langmut der russischen Regierung kalkulierend, beschossen ukrainische Armee und Nationalgarde fortlaufend die Zivilbevölkerung des Donbass, (OSCE-Bericht zu den Opfern), missachtete Deutschland die Hinweise und  diplomatischen Interventionen Russlands, doch bitte das als immer unfreundlicher empfundene Vorgehen auch Deutschlands zu überdenken, und gegen das offen russlandfeindliche Vorgehen der ukrainischen Staatsführung gegen russischsprechende Bevölkerungsteile in der Ukraine und den militärischen Strafaktionen in den Donbass-Gebieten vorzugehen.

Man könne doch gemeinsam nach Lösungen, statt nach Eskalationspotential in einem von Russland als für beide Seiten bedrohlich empfundenen Konflikt suchen. Ergebnis: Man zeigte Russland die kalte Schulter, um es noch freundlich auszudrücken. 

Hätte man sich in deutschen Diplomaten- oder Regierungskreisen mehr mit der jüngeren deutschen Geschichte, statt mit Ideologie, moralischer Überheblichkeit oder der Abwehr russischer Bedenken beschäftigt, würde man mit Blick auf die im Verlauf des Jahres 1939 eskalierenden Auseinandersetzung zwischen Polen und Deutschland, und dem am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnenen 2. Weltkrieg erkannt haben, dass Kriege viele Väter haben, und wohin Deutschland in dem von Russland am 24 Februar 2022 in der Ukraine begonnenen Krieg steuert oder absichtsvoll gesteuert wird.

Man würde erkannt haben, dass sowohl die Beweggründe, warum man damals die Sorgen und Nöte der in Polen antideutschen Repressalien, Enteignung, Terror, willkürlichen Verhaftungen, Gräueltaten und Ermordung ausgesetzten deutschen Minderheit nicht anerkennen wollte, als auch die an der Eskalation gegen das damalige Deutschland beteiligten Nationen, die, nun unter anderen Vorzeichen, zum großen Teil auch heute in der Auseinandersetzung mit Russland -und dem hineinziehen Deutschlands als Kriegspartei- identisch sind.

Sah z. B. Großbritanniens damaliger Außenminister, der Earl of Halifax, in der polnischen Aggression die Möglichkeit Deutschland in einen Krieg gegen Großbritanniens Schützling Polen zu verwickeln, um in der Folge „die vollständige Zerstörung Deutschlands“ zu erreichen, (Hoggan, David L., The Forced War: When Peaceful Revision Failed) so topedierten Großbritanniens Ex-Premier Johnson und „der“ Westen (wie man entgegen eines krampfhaft bemühten, anderslautenden Narrativs u. A. HIER nachlesen kann) im März 2022 ein bereits fertig ausgehandeltes Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine. (Ergänzend muss angeführt werden, dass sich die Geschichtsschreibung darüber einig ist, dass Hitler -auch bei einer eventuellen Befriedung des Konflikts mit Polen- einen Weltkrieg angezettelt hätte

Da sage noch einer Geschichte wiederhole sich nicht. Und noch etwas wiederholt sich: Aus der Geschichte lernt man schon wieder nicht. Zumindest Politiker scheinen vor derartiger Amnesie nicht gefeit zu sein. Besonders die aktuell „Schaden vom Deutschen Volk abwenden“ sollenden deutschen Politiker scheinen davon erfasst zu sein.

Statt an Friedensplänen zu arbeiten, verlängert die Bundesregierung peu à peu -zusammen mit einer auf Eskalation getrimmten Presse- durch in der Bevölkerung stark umstrittene militärische und finanzielle Unterstützungsleistungen an die Ukraine- eine bisher noch auf die Region begrenzte militärische Auseinandersetzung mit Russland. („…egal, was meine deutschen Wähler denken.“ Baerbock im September 2022)

Sollte der Konflikt mit Russland widererwarten zu einem auch auf Deutschland übergreifenden Flächenbrand werden: Unsere Regierung würde sich dem staats- und geopolitischen Realismus auch dann noch verweigern. Denn wir, die Guten, waren nie Kriegspartei und halfen durch Waffenlieferungen nur Leben zu retten. Der Böse in diesem Spiel sei allein Russland.

Diese alles umfassende Schuldzuweisung kann man, nicht nur wegen des dabei üblichen (siehe 1939) Ausblendens einer Vorgeschichte, als ausschließlich an Bundesbürger mit dürftiger Bildung und niederschwelligem Informationsbedarf gerichtetes Propagandageschwall werten. („dürftige Bildung“: Aus Sicht der Regierung eventuell eine als positiv zu wertende Auswirkung des galoppierenden Lehrermangels)

Wie soll man auch den von deutschen Kriegstreibern beförderten ukrainischen Horrorbefürchtungen „Wenn wir untergehen, marschiert der Russe weiter nach Deutschland“ glauben, dass der Russe, sobald er sein Ziel in der Ukraine erreicht hätte gleich weiterziehen und Deutschland militärisch bedrohen würde, wenn einem die eigene Regierung vor Augen führt, das sie diese Befürchtungen nur dem Anschein nach teilt, da man z.B. wegen 14 aus den Beständen des Panzer Bataillons 203 an die Ukraine zu liefernden Leopard-Panzern nur noch 5 von ursprünglich 32 Geräten zur Abwehr der Russen hätte. (8 Leos stehen in Litauen und 5 sind „kaputt“. ZDF heute Nachrichten, ab Minute 0.50)     

Und hier schließt sich der Kreis und ich bin wieder bei Willy Brandt. Um dieser von Naivlingen und Kriegstreibern wie Baerbock, Hofreiter oder Strack-Zimmermann mit „Russland darf nicht siegen“-vorgebrachten Unbedingtheit etwas Realismus entgegen zu stellen, möchte ich erneut aus Brandts Regierungserklärung vom Oktober 1969 zitieren. „Zu einem ehrlichen Versuch der Verständigung sind wir bereit, damit die Folgen des Unheils überwunden werden können, dass eine verbrecherische Clique über Europa gebracht hat„.

Gibt es keinen „Versuch der Verständigung“, also kein baldiges Bemühen um einen Friedensplan mit Russland, wird Deutschland unter dem Einfluss verantwortungsloser Hitzköpfe nicht nur den Rest seines Wohlstands komplett verspielen, sondern der totalen Niederlage, also dem anderen Ende der oben mit Siegesforderungen einhergehenden Unbedingtheit entgegen gehen.

Ach ja, Danke für´s Durchhalten um den Text bis hierher zu lesen.

Über Bernd Schuhböck

Nicht nach heutigen, jedoch nach den Maßstäben der Ära Willy Brandt politisch eher linksliberal. Wer ihn missverstehen möchte, nennt ihn einen Sozialromantiker. Wer ihn kennt, wertkonservativ und mit zu viel Ethos für einen Bayer. Der Mann für´s kommunale, soziale oder sonstwie politische. Oder für Themen, für die sich keiner fand, der sie aufgreifen wollte.

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