Journalistische Deformation der Demokratie

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Mit „Sie haben offensichtlich ein grundlegendes Problem mit der Demokratie“ reagierte Ingo Zamperoni, der Moderator der Sendung „Die 100“, nach Angaben eines Teilnehmers auf das Statement eines von ihm in der Sendung befragten Teilnehmers.

Niklas Kuhlmann, um sein Statement geht es hier, war Teilnehmer einer am 16. 09.2024 ausgestrahlten ARD-Sendung „Ist die AfD eigentlich ein Problem?“. 100 Teilnehmer sollten über diese Frage abstimmen. Seinen Angaben zufolge habe er in dieser Sendung sinngemäß folgendes gesagt: Dass „die AfD durchaus lächerliche Positionen vertritt, das macht den Diskurs aber nicht kaputt, denn der ist ohnehin lächerlich. Der Diskurs findet in einem sehr engen Rahmen statt. Es wird einem alle vier Jahre Wahlfreiheit vorgegaukelt. Aber nach dem Abgeben der Stimme hat man keinen Einfluss mehr darauf, was Politiker machen. Sobald jemand im Amt ist, muss man ihn vier Jahre aushalten.“ (Die Szene war in der Sendung nicht zu sehen. Der für die Sendung verantwortliche NDR bestätigte gegenüber der Website „nius.de“ sowohl das herausschneiden, als auch Zamperonis Einlassung)

Man hatte also nach Meinung des ARD-Journalisten Zamperoni, normalerweise begegnet er den Fernsehzuschauern als Anchorman der Tagesthemen, bereits ein „grundlegendes Problem mit der Demokratie“, sobald man eine spezielle Form, die „repräsentative“ Form der Demokratie kritisiert.

Aus welchen NGO ideologieverseuchten Wasserspendern muss man trinken, um sich geistig so zu verirren?

Haben die Zamperonis dieser Welt noch nichts von „direkter“, oder einigen Mischformen funktionierender Demokratien gehört? Die Kritik, in unserer Demokratie habe der Bürger i.d.R. nur alle 4 Jahre Einfluss auf die Politik, deckt sich doch mit einem, jedem halbwegs gebildeten Journalisten geläufig sein müssenden Jürgen Habermas Zitat von der „Fassadendemokratie“. Böse Zungen sprechen sogar von „Zuschauerdemokratie“.

Die Beschäftigung mit plebiszitär ausgeprägten Formen von Demokratie bedeutet doch nicht ein „grundlegendes“, sondern nur ein Problem mit einer in der Sache noch nicht zufriedenstellenden Ausgestaltung einer Demokratie zu haben.

Fußgängertauglich ausgedrückt: Demokratie ja bitte, aber bitte bürgerfreundlicher!

Zufall oder nicht, zwei Tage nach der Ausstrahlung dieser ARD-Sendung veröffentlichte der „Tagesspiegel“ einen Artikel seines „Volontärs“ Sönke Matschurek. (Hinter Bezahlschranke) Neben der Überschrift „Hilfe, mein Kind rutscht nach rechts!“  war der einer Sozialarbeiterin Raum gebende Artikel mit dem Zusatz versehen: „Acht Tipps für demokratische Eltern mit undemokratischen Kindern“.

Versucht man nun -z.B. mit Hilfe des Strafrechts- eine Einteilung in Kinder, Jugendliche und Heranwachsende in Deutschland vorzunehmen, erfährt man, dass man bis zum Alter von 13 Jahren noch als Kind gilt. (In anderen europäischen Ländern gelten -strafrechtlich- Personen bis 18 Jahren als Kind.) Berücksichtigt man nun zusätzlich noch die Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie, nach denen besonders Kinder zwischen Vorpubertät und Pubertät (10-13 Jahre) versuchen sich irgendwie abzugrenzen, erahnt man bereits an der Überschrift die grobe Simplifizierung des Artikels, ohne ihn sich noch durchlesen zu müssen. (Ich hab’s trotzdem, dank Wayback Machine, getan) Der im Artikel vorgenommen Vereinfachung des kindlichen Erlebens stellen Psychologen die wesentlich komplexeren kognitiven, sozialen und emotionalen Aspekte gegenüber. Pubertierende Kinder leben mit einem Chaos an Gefühlen. In dieser Welt der Gefühlsschwankungen braucht man Kindern mit „demokratisch“ oder „undemokratisch“ nicht zu kommen. Selbstfindung, zumal politische, muss sich erst ausbilden.

Mehr Informationen muss man zur Bewertung dieses von einem Schreiberlehrling verantworteten Artikel nicht haben, um ihn als vollkommen abwegig zu bezeichnen.

Wenn Siege, zumal „auf ganzer Linie“, mit derartigen Eruptionen enden, möchte man sich nicht vorstellen, wie vernunftwidrig Niederlagen von Journalisten des ÖRR verkauft würden.

Wobei, man muss es sich nicht vorstellen. Die Realität zeigte es bereits am Beispiel der Berichterstattung zu den zurückliegenden Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen.  

In diesen zwei ostdeutschen Bundesländern sahen sich Bürger mit einer spezialdemokratischen Neuerung konfrontiert. 30 % von ihnen, so der jede demokratische Festlegung aushebelnde Vorwurf, hätten am 1. September 2024 bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, entgegen der Auffassung einer gesellschaftspolitisch dominierenden Handlungselite, ihr Kreuz an der falschen Stelle gesetzt.  

Was hatten sie übersehen? Hatte man über Nacht das Wahlrecht geändert und aus den Wahlrechtsgrundsätzen die Bestandteile „unmittelbar“ und „frei“ daraus entfernt?

Wie war das denn damals, als man sich im Osten mit der „friedlichen Revolution“ und „Wir sind das Volk“-Rufen den Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem nach westdeutschen Vorbild ermöglichte, indem man die erste nach demokratischen Grundsätzen durchgeführte Wahl im Jahre 1990 auf dem Boden der DDR durchführte.

Die Menschen in der DDR müssen selbst entscheiden können, welchen Weg in die Zukunft sie gehen wollen. Sie haben dabei keine Belehrungen nötig – von welcher Seite auch immer“. (Erklärung von Helmut Kohl in einer Sondersitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg, 22.11.1989)

Und „die Menschen der DDR“ sind den Weg in ein wiedervereinigtes Deutschland gegangen. Hinein in einen demokratischen Rechtsstaat, mit einer grundgesetzlich festgeschriebenen Verfassung und einer vom „Volke in Wahlen und Abstimmungen“ ausgehenden Staatsgewalt, (GG, Art. 20)

Die Wahlrechtsgrundsätze des GG, Art. 38 normieren (wie auch GG, Art. 28 für die Länder), dass alle Wählerstimmen der aktiven Wahlrechtsgleichheit unterliegen, und somit den gleichen „Zähl- und Erfolgswert“ haben. (gleicher Einfluss auf das Wahlergebnis)

Doch, so konnte man am Wahlabend den Sendungen des Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunks entnehmen, wurde plötzlich zwischendemokratischen“ und „undemokratischen“ Stimmen unterschieden.

Der mit den meisten demokratischen Stimmen ist momentan Mario Voigt“, gewichtete ein MDR-Moderator in einer Live-Sendung die nach der Thüringen-Wahl für die Parteien vorliegenden Stimmenanteile. (Die CDU -mit ihrem Spitzenkandidat Mario Voigt- bekam 23,6 %, die AFD -mit Spitzenkandidat Björn Höcke- hingegen 32,8 %

Ließe man sich nun auf die Vorstellungswelt dieses MDR-Moderators ein, wären im Umkehrschluss die Stimmen für die AfD also undemokratisch. Nimmt man nun noch den Kommentar der Chefredakteurin des ZDF hinzu, in dem sie u.a. anklagend feststellt, „mehr als 30% der Wählerinnen und Wähler in Thüringen und in Sachsen haben rechtsextrem gewählt“, ist die Konfusion komplett.

Zum einen darf man sich fragen, wie man sich das vorstellen muss, nicht nur zu wählen, sondern gefühlsbetont rechtsextrem zu wählen. Geht man dabei mit besonders verkniffenem Gesicht in die Wahlkabine, bekleidet mit Bomberjacke und einem Baseballschläger in der Hand. Zum anderen würde man gerne wissen, wie aus dem Setzen eines Kreuzchens auf einer staatlich genehmigten Liste mit vorgegebenen Wahlvorschlägen, plötzlich ein undemokratischer Akt wird?

Es ist ja wohl ein Unterschied, ob man einer Partei – in Teilbereichen oder einigen diese Partei repräsentierenden Personen- oder ihren Wählern vorwirft, sie sei(en) „eine erwiesen rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.“, da u.a. wegen der Verwendung eines gegen die Menschenwürde verstoßenden „ethnischkulturellen Volksbegriffs eine grundgesetzwidrige biologisch begründete Ungleichheitsannahme einzelner Menschen und Bevölkerungsgruppen“ darstellt. (Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2022)

Eine Bewertung, so der ehemalige SPD- Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb in seinem Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“, die selbst zwischen den Verfassungsschutzbehörden variiere. Die Einschätzung des Volksbegriffs, wie ihn einige AfD-Politiker verwenden, werde nicht einheitlich als rechtsextrem angesehen.

Es wäre im damaligen West-Deutschland doch niemand in den Sinn gekommen, die im Vorfeld der Wiedervereinigung in Dresden skandierten „Wir sind das Volk“-Rufe, als „nationalistische“ Bekundung zu diffamieren. Bürger der DDR waren zwar keine Staatsbürger der BRD, jedoch im Sinne eines ethnischkulturellen Volksbegriffs deutsche Volkszugehörige. Heute jedoch versucht eine weisungsgebundene Behörde, mit einer von Behörde zu Behörde unterschiedlichen Interpretation des von der AfD verwendeten Volksbegriffs, einen vermeintlich regierungsoffiziellen Zeitgeist zu bedienen. Und damit eine zugelassene Partei auszugrenzen.

Doch die Europawahl und die letzten Landtagswahlen zeigten es überdeutlich: Die Wähler, besonders die jungen Wähler, sehen das anders.

Die Schriftstellerin Juli Zeh, gelernte Juristin (Dr. iur.) und ehrenamtliche Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg mahnt: „Natürlich ist es legitim, diese Partei zu wählen. Wenn man das Wählen der AfD als einen in sich undemokratischen Akt framed, begibt man sich selbst außerhalb der demokratischen Maßstäbe“.

Und damit bin ich wieder am Beginn dieses Artikels. Der Headline „Journalistische Deformation der Demokratie“.

Man muss die AfD weder gutheißen noch darf man über sie keine schlechte Meinung haben. (Was man jedoch tun sollte, wäre ihr Programm zu lesen um ihren destruktiven neoliberalen Charakter erkennen zu können.) Doch besonders der Öffentlich-Rechtliche- Rundfunk (ÖRR) sollte die Meinung transportierende Pressefreiheit nicht mit der für ihn geltenden Rundfunkfreiheit verwechseln. Im Gegensatz zur Pressefreiheit ist die Rundfunkfreiheit mit der Pflicht verbunden, sich einer politischen Einflussnahme zu enthalten und alle ernstlich in der Bevölkerung vertretenen Ansichten fair und gleichberechtigt darzustellen.

Und das, dieser Artikel beschreibt es, geschieht eben nicht.

Über Bernd Schuhböck

Nicht nach heutigen, jedoch nach den Maßstäben der Ära Willy Brandt politisch eher linksliberal. Wer ihn missverstehen möchte, nennt ihn einen Sozialromantiker. Wer ihn kennt, wertkonservativ und mit zu viel Ethos für einen Bayer. Der Mann für´s kommunale, soziale oder sonstwie politische. Oder für Themen, für die sich keiner fand, der sie aufgreifen wollte.

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