Wie frei ist die Meinungsfreiheit auf einem „Meinungskorridor“?

Lesedauer 9 Minuten

Nachdem sich Bernd Lucke und Georg Restle bei „Maischberger“ in eine lebhafte Diskussion begeben hatten, war am nächsten Tag das Urteil schnell klar, zumindest in den sozialen Medien: Restle: 1, Lucke: 0.
Doch so einfach ist die Sache nicht.

Von Tom Wellbrock

Klar, Georg Restle hatte die bessere Position bei Maischberger. Immerhin war sein Kontrahent der AfD-Gründer Bernd Lucke. Und Restle war in guter Verfassung, einerseits. Andererseits war der Redeanteil Luckes deutlich geringer. Letztlich blieb die von Restle, Maischberger und dem Publikum hochgehaltene Überzeugung, dass es in Deutschland Meinungsfreiheit auf ganze Linie gebe – was auch der Auftritt Luckes eindrucksvoll demonstrierte. Schließlich konnte er nicht nur seine Meinung äußern – etwa mit Freunden an einem Kneipentisch -, sondern bekam den ganz großen Bahnhof. In der Talkshow von Maischberger, mit guten Einschaltquoten. Zuvor hatte Lucke noch einen Beitrag in der „WELT“ publizieren dürfen. Beides spricht nicht dafür, dass er unter fehlender Meinungsfreiheit zu leiden hat.

Was Lucke also präsentierte, war das übliche AfD-Gejammere. Denn er und zahlreiche Mitglieder seiner Ex-Partei bekommen nun wirklich ausreichend Plattformen, um ihre Meinung zum Besten zu geben.
Ende der Diskussion?
Nein.

Was ist Meinungsfreiheit?

Im Grunde ist das mit der Meinungsfreiheit ganz einfach. Im Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es dazu:

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Dann können wir die Diskussion jetzt aber wirklich beenden, oder?
Nein, leider wieder nicht.

Denn Lucke sprach von einem „Meinungskorridor“, das dürfte etwas anderes sein als die generelle Meinungsfreiheit. Meinungskorridor meint ja, dass die Möglichkeiten, mit einer bestimmten Meinung zu Wort zu kommen, eingeschränkt werden. Nachdem Lucke das so formuliert hatte (und sich natürlich in „guter“, alter AfD-Tradition in eine Opferrolle begab, die ihm nicht gut steht, weil sie nur sehr eingeschränkt gilt), war der Aufschrei groß.

Von liberal über konservativ und knallhart neoliberal bis hin zur Ecke der Linken wurde die nahezu einhellige Meinung vertreten, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland sichergestellt sei. Punkt. Aus. Ende.

Und da ist ja auch etwas dran. Nur selten erleben wir Verhaftungen, weil jemand eine Meinung äußert, man kann letztlich sagen, was man will. Und so müssen wir einerseits von Meinungsfreiheit ausgehen und andererseits davon, dass – wie im Grundgesetz beschrieben – auch eine Zensur nicht stattfindet.

Meinungsfreiheit ist also die Möglichkeit, ohne Sanktionen seine Ansichten äußern und teilen zu können, solang sie keinen Gesetzen widerspricht. Wer schon einmal etwas gesagt oder geschrieben hat, das medial als das Gerede eines Rechten, Populisten oder Verschwörungstheoretikers gebrandmarkt wurde, wird allerdings bestätigen können, dass durch diesen Stempel die Meinungsfreiheit zumindest ernste Risse bekommt. Denn wer will mit seiner Meinung schon pauschal als Verschwörer oder ähnliches abgekanzelt werden?

Meinungsäußerung ohne Sanktionen?

Dass Luckes erster Auftritt an der Universität in Hamburg so sehr gestört wurde, dass er seine erste (und auch seine zweite) Vorlesung abbrechen musste, ist kein Zeichen von fehlender Meinungsfreiheit. Auch die Tatsache, dass Thomas de Maizière sein aktuelles Buch aufgrund von Widerständen nicht vorstellen konnte, zeugt nicht von fehlender Meinungsfreiheit (schon, weil beide ihre Vorhaben durchaus hätten durchsetzen lassen können, was sie aber – womöglich wegen des erzielten Effektes – nicht taten). Denn neben den Meinungen der beiden Herren gibt es auch noch die derer, die etwas dagegen hatten, dass sie tun konnten, was sie tun wollten. Das kann man gut finden, oder auch nicht. Aber daraus das Fehlen von Meinungsfreiheit herzuleiten, würde bedeuten, dass ein paar Demonstranten darüber wachen, welche Meinung zulässig ist oder nicht. Ist es ein Zeichen fehlender Meinungsfreiheit, wenn Demonstranten Merkel während einer ihrer Reden ausbuhen? Oder Sigmar Gabriel? Nein, im Gegenteil, es ist eine sehr klar formulierte Meinung, auch wenn man die Form verurteilen kann.

Weitreichende Sanktionen gehen immer von oben aus. Demonstranten können die herrschende Politik nur sehr eingeschränkt sanktionieren, zum Beispiel, indem sie Politiker daran hindern, öffentlich Reden zu halten. Von gewaltsamen Maßnahmen wie dem Werfen von Steinen oder anderen Gewaltakten abgesehen haben sie aber kaum Möglichkeiten, an den bestehenden Verhältnissen etwas zu ändern. Und wenn sie tatsächlich zu solchen Maßnahmen greifen, erfahren sie die volle Härte von Polizei und Justiz.

Zensur geht meist von oben aus, möglicherweise auch auf einer gemeinsamen Ebene (ein Großteil der Medien zensiert sich gewissermaßen selbst, und zwar, indem Meinungen innerhalb dieser Gruppe sanktioniert werden, wenn sie nicht in das mühsam gemeinsam aufgebaute Weltbild passen). Kein Leser des SPIEGEL kann das Blatt zensieren, aber der SPIEGEL kann sehr wohl zensieren, insbesondere sich selbst. Inwieweit er und andere Medien das tatsächlich tun, lässt sich hervorragend im Buch „Sabotierte Wirklichkeit“ von Marcus Klöckner nachlesen.

Halten wir also fest: Weder Lucke noch de Maizière sind Opfer schwindender Meinungsfreiheit. Sie sind Opfer von Widerständen, die ihrer politischen Richtung geschuldet sind. Daran werden sie nicht zerbrechen. Und wenn man bedenkt, dass fast zeitgleich nach „ATTAC“ auch „Campact“ die Gemeinnützigkeit entzogen wurde, kann man eh fragen, wo denn gerade die Prioritäten liegen.

Aber wie ist das nun mit der Meinungsfreiheit und dem Meinungskorridor?

Was die AfD macht, ist perfide und folgt einem Plan. Sie will sich in eine Position bringen, aus deren vermeintlicher Schwäche heraus sie Stärke demonstrieren kann. Das Prinzip ist so alt wie die AfD, aber die Mittel sind ausgereifter. So ist das, was Lucke einen Meinungskorridor nannte, nichts großartig anderes als das, was Mausfeld Einengung des Debattenraums nennt. Geht man tiefer in die Analyse, bleiben zwischen Lucke und Mausfeld keinerlei Gemeinsamkeiten. Aber diese eine reichte aus, um ein Sturm der Entrüstung loszutreten.

Ausgerechnet Björn Höcke sprach in einem Interview mit dem MDR von einem „Parteienkartell“. Das gleiche Wort hat Rainer Mausfeld ebenfalls schon oft verwendet. Mausfeld meint damit eine politische Struktur, die stets dieselbe bleibt, egal, was man wählt. Höcke dagegen reduziert sich auf das Feindbild der etablierten Parteien, die es so schlimm mit ihm und der AfD meinen. Dennoch bedient er sich vermutlich bewusst eines Vokabulars, das von Mausfeld verwendet wird.

Und auch im weiteren Verlauf des MDR-Interviews lässt Höcke sich schlecht einordnen, wenn es um bestimmte Themen geht. So pocht er darauf, die gesetzliche Rente zu stärken, und es ist der Moderator, der sich für private Altersvorsorge einsetzt, weil doch die gesetzliche Rente faktisch gescheitert sei.
Björn Höcke also mit linken Forderungen? Das kann man ausschließen, denn die AfD ist bis ins Mark neoliberal aufgestellt und wird ganz sicher keinen heroischen Kampf für die gesetzliche Rente ausfechten. Und selbst wenn, muss man annehmen, dass daraus ein rein deutsches Modell wird, das ausländische Mitbürger entweder ausschließt oder zumindest schlechter behandelt.

Aber zurück zum Meinungskorridor. Höcke, Lucke und große Teile der AfD kokettieren mit einer Einschränkung der Meinungsfreiheit, die sie einfach nicht betrifft. Tatsächlich ist der Meinungskorridor enger geworden. Männer wie Rainer Mausfeld, Dirk Pohlmann, Paul Schreyer, Albrecht Müller, Ken Jebsen (der ja sowieso sehr spezielle und schmerzhafte Erfahrungen mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen sammeln musste), Mathias Bröckers, Michael Lüders und zahlreiche andere kritische Geister haben in den öffentlich-rechtlichen Medien keinen Platz (wobei man bei Lüders leichte Abstriche machen muss).

Man findet diese kritischen Köpfe natürlich, wenn man sie sucht. Aber eben fast nur im Internet. Damit ist die Meinungsfreiheit sichergestellt, denn meist können sie in den alternativen Medien sagen, was sie wollen. Allerdings auf einem recht schmalen Korridor, verglichen mit Formaten wie der Tagesschau, dem ZDF heute Journal oder den diversen Talkshows, in denen regelmäßig zu bestimmten Themen Stimmung gemacht wird. Hier von einem beengten Debattenraum oder einem schmalen Meinungskorridor zu sprechen, ist also in der Sache erst einmal nachvollziehbar.

Doch dann wird es bizarr.

Es ist alles in Ordnung, es muss alles in Ordnung sein

Lucke hat etwas geschafft, das Eindruck macht. Statt das Problem des Debattenraums ernst zu nehmen und zu vertiefen, statt Mausfeld zuzuhören und anderen, die dieses Thema ansprechen, zuckt die politische Linke zusammen, wenn Lucke spricht. Und widerspricht aufs Schärfste. Weder hätten wir ein Problem mit der Meinungsfreiheit noch mit einem schmaler werdenden Meinungskorridor, so der Tenor. Und – man kommt nicht um diese Vermutung herum – dieser Tenor entsteht, weil kürzlich der AfD-Gründer etwas gesagt hat, das nicht falsch ist, auch wenn es, bezogen auf die AfD, kompletter Humbug ist.

Da aber Lucke es war, der etwas Grundlegendes angesprochen hat, ist der Gegenwind vorprogrammiert. Klug wäre es gewesen, Lucke genau diese Argumentation „um die Ohren zu hauen“, so wie es Restle bei ihm und der Moderator vom MDR bei Höcke teilweise gemacht haben. Stattdessen die These als unbrauchbar abzustempeln, tut der Sache nicht gut.

Man muss sich bewusst machen, dass langsam, aber doch mit einer gewissen Stetigkeit, Teile der Bevölkerung durchschauen, dass die öffentlich-rechtlichen Medien unausgewogen, tendenziös, ja, sogar propagandistisch berichten. Beispiele wie die Berichterstattung über die Ukraine, Syrien, die Gelbwesten in Frankreich oder das offenkundige Russland-Bashing lassen immer mehr Mediennutzer zum Schluss kommen, dass da etwas nicht stimmt.

Wenn nun dieses Problem vom Tisch gewischt wird, weil ein Bernd Lucke oder ein Björn Höcke versuchen, es für sich zu vereinnahmen, wird die allgemeine Erkenntnis, dass der Mainstream unausgewogen berichtet, untergraben.

Man kann es nicht anders sagen: Die AfD versteht sich bestens darin, linkes Denken mit rhetorischen Methoden zu beeinflussen. Lucke und Höcke haben das einmal mehr bewiesen. Das ist jedoch ein Grund mehr, genau hinzuhören und das von AfDlern Gesagte auf den Inhalt zu überprüfen. Denn am Ende stehen nicht Lucke, Höcke & Co. auf einem schmalen Meinungskorridor. Sondern die, die jetzt reflexartig behaupten, mit dem Korridor sei alles in Ordnung, in bester Ordnung.

Dieser Text erschien zuerst auf „Neulandrebellen“. Wir danken dem Autor für das Recht der Zweitverwertung. Die „Neulandrebellen“ sind spendenfinanziert. Wenn sie also ein Faible für kritische Gegenöffentlichkeit haben oder ihnen postfaktisches Lebensgefühl auf den Wecker geht, können sie die „neulandrebellen“ unterstützen: HIER

Über Bernd Schuhböck

Nicht nach heutigen, jedoch nach den Maßstäben der Ära Willy Brandt politisch eher linksliberal. Wer ihn missverstehen möchte, nennt ihn einen Sozialromantiker. Wer ihn kennt, wertkonservativ und mit zu viel Ethos für einen Bayer. Der Mann für´s kommunale, soziale oder sonstwie politische. Oder für Themen, für die sich keiner fand, der sie aufgreifen wollte.

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