In Selbstermächtigung werden Grundbedürfnisse nur noch gegen Impfnachweis befriedigt
Gab es bisher für die deutschlandweit rund 1,65 Millionen von den Tafeln z. B. mit Lebensmitteln versorgten Bedürftigen nur die Voraussetzung entweder Wohngeld, Sozialhilfe, Hartz IV oder Grundsicherung zu beziehen, wurden von der Tafel in Marburg (vorübergehend) und einer Tafel-Ausgabestelle in München zusätzlich ein Impfnachweis gefordert, also die 2G-Regel eingeführt.
„Keine Bedürftige, kein Bedürftiger wird von der Tafel im Stich gelassen!“
schrieb Hannelore Kiethe, Vorsitzende des Vorstands der „Münchner Tafel“ am 2. Nov. 2021 in einer Stellungnahme auf der Website der „Münchner Tafel“.
Doch warum muss man etwas als Selbstverständlich empfundenes jetzt plötzlich besonders betonen? Gehen den bundesweit 956 Tafeln die Lebensmittel aus? Fehlt es am Nachschub aus dem stetigen Strom an Produkten „mit nahendem Mindesthaltbarkeitsdatum, Überproduktionen, Produkten mit kleinen Schönheitsfehlern oder Retouren“, die den Tafeln zur kostenlosen Abgabe an die von ihnen versorgten rund 1,65 Millionen Menschen gespendet werden? (Eigenbeschreibung Dachverband Tafel Deutschland)
Wem auf Facebook in seiner Timeline schon mal in Verbindung mit der Meldung „Frankreich ist das erste Land, das alle Supermärkte dazu verpflichtet, ihr nicht verkauftes Essen an Bedürftige zu verschenken“ der dumme Aufruf begegnete, „Teile das, wenn du denkst, der Rest der Welt sollte es ebenfalls so machen“ kann erahnen, dass noch zu viele in Deutschland nicht wissen, dass es bei uns kein Lebensmittelgeschäft gibt, das nicht schon seit Jahren Waren, die nach den Gesetzen der Marktlogik „überschüssig“ sind, „freiwillig“ an die Tafeln spendet. Denn Tafeln können nur das weiterreichen, was sie selbst gespendet bekommen. Und dieses Spendenaufkommen hat sich nicht verringert!
Warum aber dann diese „Wir lassen keinen im Stich“-Stellungnahme der Vorsitzenden der „Münchner Tafel“ vom 2. Nov. 2021?
Der Grund für die Stellungnahme war die „Entscheidung einer (von 29) Ausgabestelle der Tafel, nur noch Geimpfte und Genesene zu versorgen“. Diese im Kreis der ca. 15 Ehrenamtlichen „einstimmig“ getroffene Entscheidung fiel Ende Oktober und betraf die Ausgabestelle an der Johanniskirche in München Haidhausen.
Hildegard Breitner (71), die Leiterin dieser Ausgabestelle, (und Frau des ehemaligen Fußballspielers Paul Breitner) begründete das Vorgehen mit „Eine Impfung ist wichtig, daran halte ich fest.“ Und einen offensichtlich von ihr erwarteten „Shitstorm halte ich aus, es ist für eine gute Sache“.
Bedürftige wegen „einer guten Sache„ ausgrenzen? Diese „gute Sache“ (Impfen) schien der Vorsitzenden der „Münchner Tafel“ zusammen mit der eigentlichen, urprünglichen „guten Sache“,(Lebensmittelverteilung an Bedürftige als Aufgabe der Tafel) offensichtlich dann doch etwas zu „Doppelgut“ zu sein, und so stellte sie in ihrer Stellungsname klar, das „Gäste der Tafel, die aufgrund der Entscheidung [dieser einen] Ausgabestelle, in Zukunft nur genesene und geimpfte Gäste zu versorgen und die diese Voraussetzungen nicht erfüllten, werden an anderen [Ausgabe] Stellen der Tafel noch in der gleichen Woche ihre Lebensmittel erhalten!“
Wie oberflächlich, nicht zu Ende gedacht und offensichtlich einer anderen Agenda als dem klar formulierten Selbstverständnis und der Aufgabenstellung der Tafeln als Hilfe für Bedürftige folgend dies Entscheidung war und ist, kann man nicht nur einer Äußerung von Frau Breitner zur „Nur Geimpfte bekommen bei uns Lebensmittel“-Aktion entnehmen: „Wir müssen unsere Mitarbeiter schützen und die Pandemie in den Griff bekommen. Das geht nur durchs Impfen“. Gegen „Mitarbeiter schützen“ ist nichts einzuwenden. Solange man dabei Maß und Ziel und Grundsätzliches nicht aus den Augen verliert. Das geschieht jedoch, wenn man die milderen Mittel der Pandemiebekämpfung -Abstand halten und Masken tragen- leichtfertig negiert und den auf Lebensmittelhilfe angewiesenen Tafelgästen als Grundbedingung für die Inanspruchnahme dieser Hilfe den Nachweis einer Impfung abverlangt.
Am Tag der Lebensmittelausgabe stand auf Anregung der Breitners auch ein Impfbus auf dem Platz der Ausgabestelle. (Vier Wochen danach soll er erneut vorfahren)
Laut „Bild“ hatten 11 Tafel-Gäste und 4 Passanten das Impf-Angebot wahrgenommen. Also keiner aus dem Kreis der an der Ausgabestelle tätigen Ehrenamtlichen. Daraus, und aus der Vehemenz ausdrückenden „Einstimmigkeit“ des beschlossenen Impfgebots für Abholer ließe sich schließen, das alle Ehrenamtlichen geimpft seien. Wo liegt dann das Problem? „Mit einer Impfung schützen sie zuallererst sich selbst, aber auch andere“ verkündet der Bundesgesundheitsminister doch landauf, landab. (Das auch von geimpften Personen ein Risiko ausgeht und für geimpfte Personen besteht sollte sich rumgesprochen haben. Probates Mittel dagegen: Maske tragen, Abstand halten und womöglich testen)
Zudem befindet sich diese Ausgabestelle der Tafel unter freiem Himmel. An der frischen Luft. Ginge es nur ums schützen der Mitarbeiter würden in Anbetracht der Örtlichkeit und den Erkenntnissen von Aerosol-Forschern Abstand und Maske für Mitarbeiter als auch Gäste vollkommen ausreichen. (Wie man weiter unten noch lesen wird, hat man das bei der zwischenzeitlich ähnlich restriktiv die 3G-Regel mit PCR-Test einführenden Tafel in Marburg mittlerweile als „im Freien werden auch Ungeimpfte bedient“ verstanden)
Auch hörte man nichts von einer möglichen Angst vor Ungeimpften bei den Tafelmitarbeitern, als man die Lebensmittelspenden an/in den Stellen abholte, in denen es keine Impfplicht, sondern nur die Vorgaben Abstand halten und Masken tragen gibt: Im Lebensmitteleinzelhandel. Diese Vorgabe gilt dort sowohl für Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten und somit auch für Tafelmitarbeiter, die dort die „Spenden“ abholen.
Besonders ärgerlich erschien aber das öffentliche Stillschweigen zu diesem eigentlich diskussionswürdigen Thema, dessen Aufblitzen weitere soziale Verwerfungen in den Bereich des Möglichen rückte. Bis auf kleinere Ausnahmen herrschte mediales Schweigen im Wald. Nur die „Bild“ berichtete von der Impfvorgabe. Die darauf folgende Klarstellung der Vorsitzenden der Münchner Tafel, „wir lassen keinen Bedürftigen im Stich“, wurde auch von der „Bild“ schon nicht mehr aufgegriffen.
Wie sieht man das mit der Impfpflicht für „Tafelgäste“ bei anderen Tafeln?
„Wir würden so etwas nicht machen„, sagte Edeltraud Rager, die Leiterin der Nürnberger Tafel, „man kann hier doch niemanden ausgrenzen“ bekundete sie in einem anderen Zusammenhang ihre Einstellung gegenüber der „SZ“. Manche Kunden hätten gute Gründe, sich nicht impfen zu lassen und sollten deshalb nicht ausgeschlossen werden.
Auch in Ingolstadt wolle man sich „nicht erdreisten“ nur noch Geimpfte reinzulassen, erklärte die Erste Vorsitzende der dortigen Tafel, Petra Willner dem „BR“. In Ingolstadt setzt man auf die FFP2-Maskenpflicht und abholfertige Essenspakete.
Sah man Mitte September bei der Tafel im oberpfälzischen Weiden nur die Möglichkeit der Schließung oder 2G, (ältere ehrenamtlich Helfende blieben wg. ungeimpfter Abholer zu Hause) liest man nun auf deren Website nichts von 2G oder Schließung. Man habe „weiterhin geöffnet und wird alles in ihrer Kraft stehende tun, um die Menschen der unteren Einkommensgruppen mit Lebensmittel zu versorgen. Es haben sich bereits zahlreiche junge Menschen gemeldet, welche mithelfen und dadurch den personellen Engpass entschärfen„
Ganz anders zunächst das Vorgehen in Marburg. Auf der Website der dortigen Tafel berief man sich auf einen „Standard in unserer Gesellschaft“ und wollte zuerst nur „die 3-G Schutzmaßnahmen übernehmen. Das bedeutet, dass für Alle gilt, entweder geimpft – genesen – getestet zu sein. Dies gilt ab dem 16.08.2021, wir bitten um Einhaltung und hoffen damit, auch für die Zukunft die Tafel Marburg durchgehend offen halten zu können„.
Zwei Monate später, am 6. Oktober 2021, war das bereits Schnee von gestern. „Ab sofort“ galt für alle „die Lebensmittel abholen möchten“, jedoch weder geimpft noch genesen seien, müssen „ab sofort einen PCR Test (24 Stunden Test) vorweisen“. Aber, und hier besann man sich wohl auf die in der eigenen Website unter „Wir über uns“ propagierten „ sozialen Verantwortung“, fand man einen sozialverträglichen Weg. „Wer nicht geimpft, nicht genesen ist oder keinen Test vorweisen kann, dem werden wir seine Lebensmittel im Außenbereich übergeben“.
(Man erinnere sich. Etwas, was man bei der von Hildegard Breitner geleitetet Ausgabestelle an der Johanniskirche in München Haidhausen bis heute nicht in Betracht zog. Dort sieht man sich weiter dazu ermächtigt, der Mildtätigkeit eine in die Persönlichkeitsrechte von Tafelgästen eingreifende erzieherische Maßnahme aufzupfropfen)
Sollte derartiges Umsichgreifen, eventuell stillschweigender als es vermutlich nur wegen des prominenten Namens der Leiterin der Ausgabestelle in München öffentlich wurde, würde die jetzt schon vorhandene Spaltung in unserer sich fortschreitend endsolidarisierenden Gesellschaft erneut die Schwächsten der Armen treffen.
Etwas, das man nach dem Muster der 1963 in den USA gegründeten „Food Banks“ mit der Gründung der ersten Tafel 1993 in Berlin eigentlich verhindern wollte.
Aktuell unterstützt die „Berliner Tafel“ rund 90 Tds. Bedürftige durch die Belieferung von ca. 350 sozialen Einrichtungen, und weitere 40 Tsd. Bedürftige direkt -in Zusammenarbeit mit den Berliner Kirchengemeinden- in 46 sogenannten „LAIB und SEELE“- Ausgabestellen.
Mittlerweile herrscht auch bei den „LAIB und SEELE“ Kundinnen und Kunden Unsicherheit, ob in deren Ausgabestellen die 3G-Regel gilt. (Also Einlass nur mit einem negativen Testergebnis oder einem Nachweis über eine Impfung bzw. Genesung)
„Wir ‚bedienen‘ alle, die zu uns kommen“, teilt die Gründerin und Vorsitzende der „Berliner Tafel“, Sabine Werth auf Anfrage von „Bürgersicht“ mit. „Niemand muss irgendetwas zum Thema Corona und/ oder Impfung nachweisen“. Da man keine einheitlichen Vorgaben machen (könne), bleibe es den anderen Tafeln überlassen wie sie das handhaben.
Man hatte zwar auch „vor 5 Wochen die Impfbusse des Senats vor insgesamt 20 Ausgabestellen zu stehen, so dass sich in einer Woche 600 Menschen haben impfen lassen“.
Das soll aber nur heißen, führt Frau Werth weiter aus, „dass wir den Menschen die Chance geben, sich impfen zu lassen, dies aber in keiner Weise an die Ausgabe von Lebensmitteln dergestalt koppeln, dass nur Geimpfte oder Genesene Lebensmittel erhalten“.
Ergänzend dazu erfährt man auf der Website der „Berliner Tafel“ etwas über das Selbstverständnis in Zeiten einer Pandemie und die eigentliche Aufgabenstellung der „größten sozialen Bewegung der heutigen Zeit“ die man darüber nicht vergessen sollte: „Die Ehrenamtlichen haben sich mit unglaublicher Energie erfolgreich allen Herausforderungen der Coronazeit gestellt und nie das Entscheidende aus dem Blick verloren: bedürftige Menschen zu unterstützen!“
Sollten demnächst 2G, 3G oder wer weiß welche noch folgende „G“s in einer der mittlerweile 957 Tafeln in Deutschland als mögliche Corona-Maßnahme diskutiert werden, könnte mit Blick auf die „Gäste“ der obige Satz eventuell die Richtung vorgeben:
Nie das Entscheidende aus dem Blick verlieren.