Stattdessen kümmern sie sich um „weiche, also „Soft-Skills“.
„Ich möchte im Jahr 2040 in einem Land leben …“ begann Bundesminister Jens Spahn, einer der Kandidaten um den neu zu besetzenden CDU-Parteivorsitz eine Aufzählung vor dem CDU Publikum der Berliner Regionalkonferenz, der letzten vor der Wahl in Hamburg am 7./8. Dezember 2018.
Bei der nachrichtentechnisch auf allen Kanälen penetrierten „unsere tägliche Kandidaten Wasserstandmeldung gib uns heute“ vergisst man nur allzu leicht, das es sich beim Schaulaufen dieser Kandidaten nur um einen (Achtung) internen Wettstreit um den Vorsitz in einer Partei handelt.
Ergo der Nachrichtenwert dieser Interna eigentlich mit dem Selektionskriterium „fourth level“ bezeichnet werden kann und somit keiner überbordenden, täglich fortlaufenden Erwähnung wert wäre.
Doch mit der fortgesetzten Berichterstattung, bei gleichbleibend niederschwelligem Nachrichtenwert, betreiben Redaktionen ein von der Kritik an Merkels Regierungshandeln ablenkendes „agenda setting“. Man würde doch nicht so ausgiebig darüber berichten, würde die große Mehrheit der Bürger kein Interesse an diesem Schaulaufen der Kandidaten haben. Das beweise doch alleine schon die Tatsache, das wir am Tag zuvor schon darüber berichteten. (Also eine sich selbst bestätigende „Filterblase“)
Bei Lichte betrachtet dürfte man selbst den 417.547 eingetragenen Mitgliedern dieser Partei ein gesteigertes Interesse an dieser Wahl nur sehr bedingt unterstellen. (Mietgliederzahl September 2018).
Doch zurück zur Rede Spahns. Wer jetzt erwartet hatte, es folge auf „Ich möchte im Jahr 2040 in einem Land leben …“ eine Positivaufstellung erfüllter Erwartungshaltungen der Mehrheit der Deutschen, der sah sich getäuscht.
Spahns Anspruch an die kommenden Jahre eines lebenswerten Deutschlands scheint nicht die Ertüchtigung der seit langem wie ein schlapper Luftballon nach einem Kindergeburtstag in der Ecke liegenden Sozialen Marktwirtschaft, also den Vorstellungen eines CDU Wirtschaftsministers und Begründers dieses Wirtschaftssystems Ludwig Ehrhard, möglichst nahe gekommen zu sein.
Es schien weit wichtigeres für ihn zu geben, damit das Deutschland des Jahres 2040 seinen Wunschvorstellungen entsprechend lebenswert sei.
Spahn wolle 2040 in einem Deutschland leben, das „seine Werte ganz bewusst verteidigt“. In einem Land „das sagt was wir akzeptieren, und was nicht“. Das wir „Nein sagen zu Rassismus und Antisemitismus, zu Ressentiments und Homophobie. Das wir Nein sagen zu Vollverschleierung, Zwangsheirat und Ehrenmord“.
Was daran ist zwingend? Oder anders gefragt: Was davon wäre hervorstechend hinsichtlich primärer Auswirkungen auf die Lebensumstände der Bürger?
Das Bürger heute wie sicherlich auch im Jahr 2040 zuallererst in einem Deutschland leben wollen, in dem sie dem Wortsinn entsprechend auch leben können, scheint Spahn als nachrangig zu betrachten.
Welchen Ansprüchen glaubt man als offensichtlich gehandelter Aktivposten der CDU und Mitglied der Bundesregierung eigentlich genügen zu müssen?
Jetzt könnte man natürlich anfügen, Spahn habe doch sicherlich auch noch anderes gesagt. Ja, sicher, hat er. Doch die Nachrichten (z.B. ZDF, 19 Uhr vom 30.November) brachte eben nur diesen einen Ausschnitt. Auch wenn man die zugegeben zeitlich gebotene Raffung und die redaktionell gewollte Wertung für derartige Ausschnitte in einer Nachrichtensendung berücksichtigt, bleibt festzuhalten, das ZDF erhebt für seine Nachrichten den Anspruch, sie böten „das wichtigste vom Tag“.
Das heißt jetzt nicht, die von Spahn auf der letzten Regionalkonferenz vor der finalen Wahl geäußerten Wunschvorstellungen seien nicht erstrebenswert. Nur sind sie eben der gefühlt 500. Schritt vor den hunderten vorher zu gehenden Schritten, bei denen es um weit existenzielleres als das Zurückdrängen von Vorurteilen und das Aufrechterhalten von Moralvorstellungen geht.
Um nur die drängendsten innenpolitischen Defizite zu benennen, soziale Ängste hinsichtlich eines für ALLE lebenswerten Deutschlands gelöst zu bekommen: Niedriglöhne, Minirenten, Harz IV, Altersarmut, explodierende Mietpreise, Bildungs- und Infrastrukturdefizite.
Welchen Stellenwert räumt der bekennende Homosexuelle Jens Spahn einer bei einer verschwindend geringen Anzahl vorhandenen irrationalen, durch nichts zu begründenden Angst vor homosexuellen Menschen gegenüber der Tatsache ein, dass jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte in Deutschland zum Niedriglohn schuftet?
Was glaubt er, könnte ein Nein gegen die Vollverschleierung im Jahr 2040 bei den mehr als 9,3 Millionen Ruheständlern allein in den alten Bundesländern verbessern, die schon heute nur mit Renten von 900 Euro und weniger auskommen müssen?
Spahns Vorstellungen für das Jahr 2040 sind, neben der Tatsache ihres Vorbringens diesen Profilierungsversuch hinsichtlich höherer Weihen mit Kopfschütteln zu quittieren, für Bürgerinnen und Bürger desillusionierend.
Und das führt zurück zur Frage, welchen Ansprüchen müsste politisches Spitzenpersonal genügen.
Antwort: Es kommt auf die Blickrichtung an.
Mit dem Blick des Bürgers auf die Politiker können die Ansprüche nicht hoch genug sein. Blickt hingegen der Politiker auf die Erwartungshaltung des „normalen“ Bürgers, gebieten Tagesgeschäft, Sachzwänge und die Unkenntnis des Bürgers diese Erwartungshaltung großflächig zu unterlaufen.
Und das war schon immer so.
Als sich Regierung und Parlament noch in der alten Bundeshauptstadt Bonn befanden, sprach man, die zu beobachtende Abgehobenheit gegenüber dem Volk bezeichnend, vom „Raumschiff Bonn“. Für das Regierungsviertel in Berlin fand man eine neue, die zu beobachtende Abgewandtheit noch stärker betonende Metapher: Planet Berlin.
Spahn Vorstellungen geben einen guten Eindruck davon. Nimmt man nun noch die Äußerungen der beiden anderen um den CDU-Vorsitz kämpfenden Kandidaten hinzu, wird es nicht besser. Besonders wenn man die damit einhergehen sollende Kanzleranwartschaft berücksichtigt (Kann man nachlesen, zähle ich hier nicht extra auf)
Mit Blick auf die in Frankreich gerade die Dimension eines Klassenkampfes annehmenden „Gelbwesten“ Bürgerunruhen muss man sich in Deutschland fragen, warum wir in unserem Land die fortschreitende Diskrepanz zwischen Bürgerwohl und politischer Vorstellungswelt nicht sehen?
Die Zustände die das politische Frankreich gegen den Willen seines Volkes nach dem Vorbild Deutschlands herbeiführen möchte, haben wir in Deutschland doch bereits!
Warum sind wir so träge, uns in den Abendnachrichten die Moralvorstellungen eines Ministers als vorrangig erstrebenwertes Zukunftsscenario wiederspruchlos vorsetzen zu lassen, anstatt darauf zu pochen, dass die augenfälligsten oben angesprochenen Probleme zukunftsfähig gelöst werden?
Eventuell werden wir sonst in einer dystopischen Gesellschaftsform des Jahres 2040 aufwachen und uns rückblickend in verschwörungstheoretischen Kellerzirkeln fragen dürfen, warum wir als Kulturnation Kants Hinweis nicht als Aufbruch aus der Lethargie sehen wollten, wenn dieser warnend feststellte, es sei für den Menschen sehr bequem Unmündig zu sein.